10.03.2016 | Betroffenenberichte

Allein mit dem Angreifer

Wenn Sascha Weber am Arbeitsplatz attackiert würde und Hilfe bräuchte, dann würde er seine Kollegin rufen, die Kampfsport macht, hat er sich überlegt. Bislang rein vorsorglich. Niemand in der Agentur für Arbeit weiß, wann er selbst solche Kollegenhilfe nötig haben wird. Der Umgangston wird immer rauer.

 

Beschimpfungen wie „Arschloch“ oder „Schlampe“ zählen in vielen Behörden zum ruppigen Alltagston. Obwohl es beinahe täglich vorkommt, so beleidigt zu werden, ärgern sich Sascha Weber und seine Kollegen trotzdem, wenn es wieder passiert. Nicht alle stecken das so gut weg wie er selbst. Zudem zählt es auch nicht zur Arbeit eines Mitarbeiters einer Arbeitsagentur, sich demütigen und beleidigen zu lassen und im schlimmsten Fall sogar zur Gegenwehr schreiten zu müssen. In der Stellenbeschreibung liest man nichts darüber, es gibt keine finanziellen Zulagen für das Aushalten von Beschimpfungen und Bedrohungen und außer einer Kommunikationsschulung auch keine Vorbereitung auf die raue Arbeitswirklichkeit.

 

Kollegen handeln intuitiv, nicht professionell

 

Manche Tage laufen so schlecht, dass sie gleich mit Krawall beginnen. Schon um 7.30 Uhr flippt ein Betrunkener vor dem Schreibtisch einer der Kolleginnen aus. Sie versucht noch, ihn zu beruhigen, während sie gleichzeitig über eine Tastenkombination auf der Tastatur des Computers einen Alarm auslöst. Das ist für die Kollegen das Signal, zu Hilfe zu kommen. Doch worüber niemand spricht: Es sind Kollegen, die in eine unbekannte Situation stürzen, keine Sicherheitsfachleute oder Polizisten. „Wir sind für so etwas nicht geschult und handeln rein intuitiv“, sagt Sascha Weber.

 

Dahinter verbirgt sich ein weiteres Dilemma: „Auch helfende Kollegen bringen sich in Gefahr“, so Weber weiter. Zwar sitzt an der Pforte ein Sicherheitsdienst, doch geht das Notruf-Signal aus dem Haus dort gar nicht ein. Um die Security-Leute zu alarmieren, müsste im schlechtesten Fall jemand aus dem vierten Stock hinunterlaufen, um Unterstützung zu holen. Man mag sich nicht ausmalen, was bis zum Eintreffen im obersten Stockwerk am Ort des Geschehens alles passiert sein könnte. Das stellt heraus, wie vielschichtig das Problem ist.

 

Bloße Worte sind die Lebensversicherung

 

Und weil niemand so recht Rat weiß, bleibt alles beim Alten. In der Ausbildung besuchen die angehenden Sachbearbeiter und Vermittler eine Kommunikationsschulung, in der sie hören, was man tun kann, um eine Situation zu deeskalieren und wie man beruhigend auf zornige Menschen einwirken kann. Das muss reichen als Lebensversicherung. Schulungen, die konkret zeigen, wie man mit gewalttätigen Kunden umgehen kann, gibt es nicht.

 

„Manche Kollegen machen in ihrer Freizeit Kraft- oder Kampfsport“, sagt Sascha Weber. Besonders die, die im Ermittlungsdienst in Privatwohnungen müssen, tun das. Dabei würden sich viele wünschen, vom Arbeitgeber die Möglichkeit zu bekommen, zum Beispiel Selbstverteidigung zu erlernen. Das würde vielen Mitarbeitern ein Gefühl von Sicherheit geben, denn existierende Sicherheitskonzepte tun das nicht. „Feueralarm, Amokalarm – das sind nur so Papiere“, sagt der junge Beschäftigte und spricht da für viele seiner Kollegen, die nicht den Mut haben, das öffentlich zu sagen.

 

In der Gewerkschaft schütten immer mehr ihr Herz aus

 

In gewerkschaftlichen Kreisen finden sie ein geschütztes Umfeld vor. Da erzählen viele, wie es zugeht bei ihnen im Amt. Dort wird auch diskutiert, was man tun könnte, um die Situation zu entschärfen und es zeigt sich, dass das nicht einfach ist: „Die Schreibtische sind schon jetzt so aufgestellt, dass sie eine Barriere bilden. Man könnte nur dazu übergehen, Sicherheitsscheiben davor zu machen – so ähnlich wie an Kassenschaltern in den Banken“, philosophiert der junge Mitarbeiter. Doch für eine Lösung hält er das nicht. Für Beratungsgespräche, in denen es nötig ist, sich persönlich zu begegnen, ist so etwas unvorstellbar.

 

Was viele frustriert, ist das Gefühl, dass die kleinen Handhaben, die der Arbeitgeber hätte, nur halbherzig umgesetzt werden. Das Hausrecht werde oft nicht richtig in Anspruch genommen, sagt Weber. Er erinnert sich konkret an einen Fall, in dem ein Kunde ausrastete. Über Mitarbeiter der Arbeitsagentur drohte er einem Vermittler aufgebracht: „Da fahr ich jetzt hin und knall den ab!“ Der Kollege wurde gewarnt, die Polizei eingeschaltet und der Sache nachgegangen. In Reaktion darauf gab es ein Hausverbot, doch nur für kurze Zeit. Wenige Wochen später war das Thema gegessen und alles wieder beim Alten.

 

Das würde Schutz bieten

 

Das weckt Ohnmacht in den Betroffenen und auch die Tatsache, dass Anzeigen wegen Beleidigung oder Bedrohung so gestellt werden müssen, dass sie zur Gefahr für die Geschädigten werden. Denn in der Anzeige werden die persönlichen Daten dessen Preis gegeben, der Anzeige erstattet. Für viele ist es ein No-Go, denn wer weiß, wie darauf der Widersacher reagieren wird und ob er nicht bald darauf zuhause vor der eigenen Haustüre stehen wird. „Eigentlich müssten die Anzeigen von der Bundesagentur erhoben werden und nicht von einzelnen Mitarbeitern“, findet nicht nur Sascha Weber.

 

Auch gebe es immer noch vereinzelt Büros, die keine Fluchttür hätten. Im Ernstfall kann das tödlich sein. „Jeder wünscht sich, dass mehr gemacht wird. Befriedigend ist die Situation so nicht.“

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