Nach Gewalterfahrung und Therapie keine Verbeamtung?
07.06.2017 | Betroffenenberichte

Nach Gewalterfahrung und Therapie keine Verbeamtung?

Gewalt und Bedrohung an Schulen – das ist ein Tabuthema, über das selbst Betroffene oft nur ungern reden. Viele suchen die Schuld für Ausraster anderer bei sich. Manche belastet das derart, dass sie eigentlich psychologische Hilfe bräuchten. Doch wer die in Anspruch nimmt, riskiert seine Verbeamtung.

 

„Du Hurensohn!“, schallt es über den Flur. In der Hand hält der 13-Jährige eine Eisenstange. „Ich schlage dir den Schädel ein!“ Neugierig und zugleich geschockt gucken seine Mitschüler den Flur hinunter. Hier und da lugt jemand vorsichtig aus dem offenen Klassenraum. Denn der Ort, an dem sich diese Szene abspielt, ist eine Förderschule.

 

Angriffe, die tief unter die Haut gehen – schon in der Grundschule

 

Szenenwechsel: eine ganz normale Grundschule, 4. Schuljahr. Als die junge Lehrerin sich um Hilfestellung in einer Matheaufgabe vor einer Schülerin über den Tisch beugt und sich dabei mit der Hand abstützt, stößt die Zehnjährige sie harsch vom Tisch. „Guck doch woanders!“

 

Das hat gesessen. Wie reagieren? Was tun? Kurz darauf in der gleichen Klasse: Esra wirft ein zerknüddeltes Blatt Papier auf den Boden. Als die Lehrerin sie bittet, es aufzuheben, bekommt sie nicht mehr als eine provozierende Antwort: „Heb es doch selber auf! Ich bin doch nicht dein Dienstmädchen.“

 

Selbstzweifel: „Bin ich das selbst schuld?“

 

Solche Situationen sind Belastungsproben – vor allem für junge Lehrer. „Sie sind in solch einer Situation verunsichert und führen die Eskalation auf sich selbst und ihre Persönlichkeit zurück“, sagt Sonja Engel, NRW-Landessprecherin des jungen VBE.

 

Engel weiß auch von Situationen, in denen Eltern ausrasten und Lehrern drohen. „In einem Fall gab es Probleme mit einem Schüler. Zunächst waren die Eltern total kooperativ und unterstützten alle pädagogischen Maßnahmen“, erzählt sie. Doch mit einem Mal kehrte sich die Situation um. Der Vater drohte: „Ich weiß, welches Auto ihres ist.“

 

Tabuthema – nur nicht darüber sprechen

 

Nicht nur jungen und vielleicht noch unerfahrenen Lehren wird in solchen Situationen anders zumute. Oftmals vertrauten sich die Betroffenen keinem an, redeten nicht einmal mit Kollegen darüber. Warum, das erklärt Sonja Engel: „Die Angst ist zu groß.“ Aus Sorge, vor anderen als unfähig da zu stehen, schweigen viele lieber.

 

„Anzeigen werden nicht gestellt, weil man vielleicht denkt, keine Zeugen zu haben“, sagt die NRW-Vorsitzende des jungen VBE. Aus vielen Schilderungen weiß sie, dass auch die Unterstützung durch die Schulleitungen oftmals zu wünschen übrig ließen. Vieles werde lieber unter den Teppich gekehrt.

 

Die psychische Last wächst

 

Was dadurch wächst, ist die Belastung. Die streift niemand so einfach ab. Mehren sich solche Vorfälle, wächst der psychische Druck. „Besonders Lehramtsanwärter stehen ohnehin oft unter Anspannung und Nervosität“, sagt Erasmus Mehlmann, stellvertretender NRW-Vorsitzender des jungen VBE. Für ihn ist das verständlich: Lehramtsanwärter werden für ihre Arbeit von anderen bewertet. Sie haben viele Prüfungen, können sich nicht aussuchen, wo sie arbeiten, ihre Einflussmöglichkeiten sind eingeschränkt. „Als Referendar hat man nicht so ein Standing wie ältere Lehrer.“

 

Kommt Stress durch Respektlosigkeiten oder Angriffe von Schülern oder Eltern hinzu, kann sich Mehlmann gut vorstellen, wie man in eine Situation geraten kann, in der man das Gefühl hat, psychisch derart unter Strom zu stehen, dass man therapeutische Hilfe in Anspruch nehmen möchte.

 

Keine Therapie aus Angst, dass Verbeamtung platzt

 

Doch hier wartet das nächste Problem: Sind die Lehrer noch nicht verbeamtet, machen sie sich durch Inanspruchnahme einer Therapie möglicherweise selbst einen Strich durch die Verbeamtung. „Jeder Amtsarzt ist da aber anders“, sagt Engel. Manchmal kann schon eine Migräne der Grund dafür sein, dass die Verbeamtung platzt. Das ist auch in anderen Berufsfeldern so.

 

Das führt jedoch zu seltsamen Auswüchsen. Mancher bezahlt eine notwendige Therapie zur Erhaltung oder Wiederherstellung der Gesundheit aus eigener Tasche, damit sie bei der Krankenkasse nicht dokumentiert wird. Die beiden Gewerkschaftsvertreter macht das nachdenklich. Vor allem, wenn das dazu führt, dass Therapiebedürftiges aus Sorge vor den beruflichen Folgen unbehandelt bleibt.

 

Hier gibt es Hilfe

 

Darum ihr Rat, sich bei Gewalterfahrungen oder in anderen belastenden Situationen an den zuständigen Schulpsychologischen Dienst zu wenden. Vielen Lehrern ist das nicht bekannt. Sie kennen den entsprechenden Dienst, der im Schulamt ansässig ist, meist eher als Ansprechpartner bei Fragen und Begleitung rund um einzelne Schüler.

 

„Je nach Problemstellung kann der Schulpsychologische Dienst jedoch auch bei Anliegen durch Lehrer für Beratungsgespräche telefonisch kontaktet werden. Manchmal vermittelt man dort an andere Kontaktstellen weiter oder begleitet sogar Prozesse über einen längeren Zeitraum hinweg supervisorisch“, sagt Mehlmann. Das Angebot ist kostenlos und wird nicht von der Krankenkasse erfasst.

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