Immer mehr Gewalt in Krankenhäusern
08.09.2016 | Betroffenenberichte

„Passen Sie nachts auf, wenn Sie nach Hause gehen!“

Am 26. Juli erschoss ein 72-jähriger Patient in einem Klinikum der Berliner Charité zunächst einen Kieferchirurgen, der ihn schon lange behandelte, und dann sich selbst. Was hier im Extrem endet, erleben viele Krankenhausbeschäftigte jeden Tag: zunehmende Gewalt. Und es gibt ein weiteres Problem, das die Situation für die Beschäftigten noch verschlimmert.

 

Ein Patient liegt auf der Intensivstation. Es steht nicht gut um ihn. Seine Familie hält sich nicht an die Besuchszeiten und zeigt sich völlig uneinsichtig gegenüber den dort geltenden Regeln. Eine Beschäftigte der Klinik, die anonym bleiben möchte, schildert uns die Situation so: „Täglich belagerten sie fortwährend die Intensivstation.“ Das fällt dem gesamten Personal auf. „Irgendwann gipfelte es darin, dass das Telefon klingelte, sich ein angeblicher Angehöriger meldete und telefonisch über den Zustand des Patienten informiert werden wollte. Das war aber aus Datenschutzgründen natürlich nicht möglich“, erzählt die Mitarbeiterin einer Klinik in NRW. Das brachte den Gesprächspartner am anderen Ende derart in Rage, dass er eine Morddrohung aussprach. Bis heute sind seine Worte im Kopf der jungen Beschäftigten abrufbar: „Ich weiß, wo Sie arbeiten! Passen Sie nachts auf, wenn Sie nach Hause gehen!“ Das stecken auch hartgesottene Menschen nicht mal so eben weg.

 

Dann erzählt sie uns von einer Kollegin, die in der Notaufnahme nachts angegriffen und gewürgt wurde, bis sie fast ohnmächtig war, und von einem weiteren Fall, in dem einer Kollegin auf der Intensivstation mit einem Schlüsselband, das sie um den Hals trug, die Kehle zugeschnürt wurde.

 

Wenn dann Meldungen wie die aus der Charité bekannt werden, verunsichert das selbst Beschäftigte, die nicht ängstlich sind oder auf eigene Initiative in ihrer Freizeit bereits Selbstverteidigungstechniken erlernt haben. Auch wenn es nur seltene Fälle sind: Sie geschehen dennoch und niemand weiß, wo sie als nächstes passieren werden.

 

Auch in anderen Kliniken beklagen Ärzte wie auch Pfleger oder Krankenschwestern eine zunehmende Gewaltbereitschaft. Gegenüber FOCUS online berichtet der ärztliche Direktor des Klinikums Nürnberg, Günter Niklewski, von rund 30 Attacken jeden Monat, die dort registriert würden. 70 Prozent der Beschäftigten dort hätten bereits selbst einen Übergriff erlebt. Das macht Angst.

 

Die Bandbreite der Ausraster ist nach Berichten aus diesem Klinikum breit und reicht von Patienten, die schon am Empfang ausflippen, bis hin zu solchen, die Pflegekräfte schlagen oder sie bedrohen. „Es gibt immer wieder Probleme, wenn Patienten oder deren Angehörige eine andere Erwartungshaltung haben. Oft finden sie, dass wir uns intensiver kümmern müssten“, erzählt uns ein Mitarbeiter einer Uniklinik in NRW. Er erinnert sich an einen Fall, in dem ein nicht-bettlägeriger Patient erwartete, dass ihm ein Kaffee gebracht würde. „Ich habe ihn gebeten, sich den Kaffee selber zu holen. Daraufhin hat er mich als Faulenzer beschimpft.“ Wie in diesem Fall braucht es oft nicht viel bis zu verbalen Ausfällen.

 

Manchmal geht es auch darüber hinaus. So erinnert sich der Klinikmitarbeiter an einen Fall, in dem einer Kollegin eine Flasche an den Kopf geworfen wurde. Ihm selbst drohte einmal ein Patient mit einem Brotmesser.

 

Ein großes Problem: Die meisten Kliniken machen solche Zwischenfälle nicht öffentlich, weil sie um einen Image-Verlust fürchten. Auch die Klinikmitarbeiterin berichtet von wenig Rückhalt. Man habe mit der Teamleitung über Fälle gesprochen. Doch die Reaktion habe über ein müdes Lächeln und den Satz „Das ist der Alltag“ nicht hinausgereicht. Das macht aus Sicht der dbb jugend nrw alles nur noch schlimmer: „Täter bekommen dadurch den Rücken gestärkt. Wir brauchen stattdessen einen offenen Umgang damit und für die Beschäftigten die Sicherheit, dass der Arbeitgeber alles Nötige tut, um ihren Schutz sicherzustellen und sie zu unterstützen“, moniert Jano Hillnhütter, Vorsitzender der Deutschen Beamtenbund-Jugend NRW (dbb jugend nrw).

 

Einige Kliniken sind aufgrund der Zunahme von Angriffen und Pöbeleien dazu übergegangen, Sicherheitspersonal zu beschäftigen. Das ist auch am Uniklinikum Aachen der Fall. Das Problem dort allerdings: Kommt es zu einem Zwischenfall, konnte in der Vergangenheit der Sicherheitsdienst nicht in allen Fällen zeitnah am Ort des Geschehens erscheinen, weil er zugleich Pförtnerdienste wahrnehmen musste und der Eingangsbereich dann unbesetzt gewesen wäre.

 

Eine weitere Maßnahme, für die sich die dbb jugend nrw als Interessenvertretung der jungen Beschäftigten im Öffentlichen Dienst einsetzt: die Umsetzung von Anti-Gewalt-Erklärungen. „Das kostet nicht viel Geld, hat aber nach außen deutliche Signalwirkung, weil es unmissverständlich zeigt, dass aggressives oder übergriffiges Verhalten im Haus nicht geduldet wird“, sagt Hillnhütter. Das hat man sich auch in Nürnberg gedacht. „Bei Gewalt hört für uns der Spaß auf“ – dieser Slogan ist nun überall im Nürnberger Südklinikum auf Plakaten zu lesen.

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