Pandemie macht die Situation in Zügen nicht leichter
23.03.2016 | Betroffenenberichte

Bei Fahrkartenkontrolle Waffe am Kopf

„Ihre Fahrkarte, bitte!“ – für einen Zugbegleiter ist das eine Routinefrage. Immer häufiger allerdings auch der Auslöser für Angriffe auf Bahnbedienstete, wie jüngst auf der Strecke von Aachen nach Heerlen. Dort sticht ein Schwarzfahrer einen 48-jährigen Kontrolleur der Deutschen Bahn nieder. Dass solche Angriffe kein Einzelfall sind, wissen viele Zugbegleiter und Lokführer zu berichten.

 

Für viele Bahnbeschäftigte fährt jeden Tag die Angst mit. Denn immer häufiger werden sie zu Opfern ausufernder Gewalt. „Besonders schlimm ist es im Nahverkehr und in den Regionalbahnen“, weiß Christian Deckert. Er ist selbst Zugbegleiter und hört als Mitglied des Bezirksvorstands der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer NRW (GDL NRW) und als Sprecher des bundesweiten GDL-Arbeitskreises „Sicherheit am und im Zug“ andauernd von verbalen und körperlichen Angriffen auf Kollegen.

 

65 Prozent der Zugbegleiter wurden schon angegriffen

 

„65 Prozent der Zugbegleiter aus NRW im Nahverkehr berichteten bei einer Umfrage darüber, selbst schon einmal körperlich angegriffen worden zu sein. Auf den privaten Nichtbundeseigenen Eisenbahnen (NE) in NRW sind es sogar 70 Prozent“, sagt Deckert. Manche Strecken sind geradezu unter den Kollegen gefürchtet. „Besonders in den Nachtstunden ist generell ein Anstieg von Gewaltangriffen zu verzeichnen. Viele Kollegen wenden sich dann vermehrt an die Gewerkschaften und bitten um Hilfe, weil sie sich von ihrem Arbeitgeber nicht viel Unterstützung erhoffen“, sagt Deckert.

 

Ein Lokführer, der unerkannt bleiben möchte, berichtet im Gespräch mit der dbb jugend nrw offen: „Da sind oft Leute unterwegs, denen man nicht einmal tagsüber begegnen möchte. Einem Kollegen haben Fahrgäste ‚aus Spaß‘ eine Waffe an den Kopf gehalten“, so eine der Szenen, denen das Bahnpersonal sich hilflos ausgeliefert sieht. Derart eskalierende Situationen erleben die Beschäftigten auf der Schiene immer wieder. Manchmal beginnt alles ganz unscheinbar. In einem Fall, an die sich der Lokführer erinnert, hätte ein S-Bahnreisender zunächst verbal Stress gemacht. Daraufhin sei ein Zugbegleiter eingeschritten. „Weil der Reisende aber immer lauter wurde, bin ich dazu gekommen und habe ihm angedroht, aussteigen zu müssen, wenn er sich nicht beruhige. Plötzlich zog er ein Messer und drohte mir damit. Dann schrie er mich an, er würde herauskriegen, wo ich wohne. Das hat er selbst im Beisein der dazu gerufenen Polizei wiederholt“, erinnert sich der Lokführer an den furchtbaren Schockmoment.

 

Splitternde Scheiben und geleerte Feuerlöscher gehören zum Alltag

 

Neben Bedrohungen und Angriffen haben die Bahnbediensteten beinahe täglich mit schubsenden oder randalierenden Fahrgästen zu tun. „Manchmal sind es Jugendliche, die sich beweisen wollen und Scheiben zerschlagen oder Feuerlöscher leeren und Züge mit Steinen bewerfen“, schildert der Lokführer ganz alltägliche Szenen aus seinem Berufsleben. Es vergeht kaum eine Woche, in der es nicht solch schwere Zwischenfälle bei der Arbeit gibt. „Es kann sein, dass jemand bei einer Fahrkartenkontrolle plötzlich grundlos und unerwartet zuschlägt“, sagt der Lokführer. Immer häufiger geschehe das ohne Vorankündigung. Auch habe die Intensität der Beschimpfungen zugenommen.

 

Ähnliche Szenen kann auch eine 27-jährige Zugbegleiterin im Fernverkehr erzählen, die ebenfalls anonym bleiben will. Sie erzählt uns von dem Spagat zwischen ihrer Verantwortung für einen reibungslosen Bahnverkehr und der Verpflichtung, gefährliche Situationen bei den Stopps in den Bahnhöfen abwenden zu müssen. Das führe des Öfteren zu Auseinandersetzungen mit Reisenden, die nicht einsehen wollen, warum sie sich schließende Bahntüren nicht noch aufhalten dürfe. In solchen Situationen angeschrien und beschimpft zu werden, gehört heute dazu. „Ich erinnere mich an einen Reisenden, der mich derart angeschrien und beschimpft hat, dass ich vor Wut selbst anfing zu zittern. Er sagte, ich könne meine Arbeit nicht und sei schuld daran, dass jetzt hundert Leute auf dem Gleis stehen blieben“, berichtet die junge Frau. Anschließend verfolgte der aufgebrachte Reisende sie durch die Bahn bis ins Zugrestaurant. Dort kam ihr ein Kollege zur Hilfe. Das ist nicht immer so, denn vor allem im Nahverkehr sind Zugbegleiter größtenteils alleine unterwegs.

 

Zugbegleiter verprügelt – Kollegin muss zusehen

 

Nicht immer gehen Situationen zudem derart glimpflich aus. Ein Beispiel dafür erzählt sie auch: „Einmal wurde ein Kollege verprügelt. Die Kollegin, die gemeinsam mit ihm auf dem Zug fuhr, hielten die Täter fest. Sie musste dabei zusehen.“ Andere Bahnbeschäftigte wurden überfallen und ausgeraubt. Die Gewalt werde immer schlimmer. „An bestimmten Tagen und zu bestimmten Zeiten gehen die Schaffner auf einigen Strecken gar nicht mehr in den Zug rein“, schildert die 27-Jährige.

 

Das ist raue Wirklichkeit in einem Beruf, der solches auf den ersten Blick nicht vermuten ließe. Die Beschäftigten wünschen sich mehr Unterstützung durch den Arbeitgeber, aber auch durch Zweckverbände oder Verkehrsverbünde. Auf einigen Strecken und in den Bahnhöfen sei zwar Sicherheitspersonal eingesetzt, doch wirklich wohler fühlen sich die Beschäftigten dadurch nicht. Das bestätigt auch die Umfrage, die die GDL NRW unter den Zugbegleitern der Fern- und Nahverkehrszüge gemacht hat. 95 Prozent der Beschäftigten auf den Fern- und Regiozügen gaben an, sich nicht ausreichend vom Arbeitgeber auf solche Situationen vorbereitet zu sehen.

 

Das muss verbessert werden

 

Was die Bahnbeschäftigten angesichts der rasant steigenden Zahl an Gewaltübergriffen bemängeln: „Als Kontrolleur steht man der Gewalt wehrlos gegenüber. Lehrgänge zur Selbstsicherung werden aber auch nicht angeboten“, so ein Lokführer. Christan Deckert kritisiert in diesem Zusammenhang, dass vor allem im Nahverkehr zu wenig Personal auf den Zügen eingesetzt werde. Seiner Auffassung nach sollte grundsätzlich eine Besetzung mit zwei gut ausgebildeten Zugbegleitern vorgesehen sein. Auch gebe es für die Mitarbeiter bislang nur vereinzelt Schulungsmaßnahmen wie solche zu Deeskalationstechniken. Diese standardisiert und flächendeckend einzuführen, wäre sinnvoll. Zudem seien angebotene Schulungen bisher oft praxisfern und gingen an den Bedürfnissen der Beschäftigten vorbei.

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