Gewalt gegen JVA-Beamte
24.02.2021 | Bestandsaufnahme

Ernüchternder Blick hinter dicke Gefängnismauern

Seit Monaten beschäftigt die Corona-Pandemie Politik wie Öffentlichkeit gleichermaßen. Von den beinahe täglichen Übergriffen auf Beschäftigte in den Justizvollzugsanstalten dringt hingegen kaum etwas nach außen. Von lediglich neun Angriffen war im Jahr 2019 offiziell die Rede. Warum diese Statistik in die Irre führt.

 

Seit Jahren nimmt die Zahl der Übergriffe auf Beschäftigte im Öffentlichen Dienst zu. In allen Bereichen ist das so – nur offenbar in den Justizvollzugsanstalten nicht. Dort kamen laut einem Bericht vom Rechtsausschuss des nordrhein-westfälischen Landtags lediglich neun Justizvollzugsbeamte im Dienst zu Schaden. Wie kann das sein?

 

Angriffe mit Scherben sind nicht das Einzige

 

Tritte, Faustschläge oder Angriffe mit Messern, Scherben aus zerschlagenen Scheiben oder anderen Gegenständen – darüber berichten viele Justizvollzugsbeamte. Sie sind beinahe Alltag. Wenn Achim Hirtz, stellvertretender Vorsitzender des Bundes der Straffvollzugsbediensteten (BSBD) in NRW mit seinen Kollegen spricht, hört er nicht nur von den körperlichen Angriffen, sondern auch von psychischen Übergriffen: Bedrohungen der Beschäftigten und ihrer Familien, übelste Beschimpfungen und obszöne Gesten – letztere vor allem gegenüber den weiblichen Justizvollzugsbeamtinnen. Das ist nach Auffassung des Gewerkschafters mehr als belastend. Zumal diejenigen, die diese Drohungen aussprechen, nachweislich dazu in der Lage sind, ihre Ankündigungen auch in die Tat umzusetzen.

 

Insgesamt ist der Ton im Laufe der Jahre immer rauer geworden. Die Hemmschwelle der Gewalt sei bundesweit dramatisch gesunken, beklagt der BSBD auf Bundesebene. Auch in NRW beobachtet man das. Seit 2015 verzeichnet der Vollzug insgesamt einen zunehmenden Anstieg der Gewaltbereitschaft. Die Gefangenenklientel habe sich verändert, sagt Hirtz.

 

Neun Angriffe in ganz NRW – kann das sein?

 

Doch unabhängig davon, von wem ein Übergriff auf den Beschäftigten einer JVA ausgeht – Erfahrungen des BSBD NRW sowie Einzelberichte Betroffener belegen, dass sich die Situation vollkommen anders darstellt als in der statistischen Erfassung des Justizministeriums in NRW.

 

Warum das so ist, lässt sich verstehen, wenn man auf das „Kleingedruckte“ schaut. Das Justizministerium unterscheidet zwischen „berichtspflichtigen“ und „nicht berichtspflichtigen“ Vorkommnissen. Der Teufel steckt eben genau in diesem Detail der amtssprachlichen Formulierung. Verteilt ein Häftling bei einer sich hochschaukelnden Auseinandersetzung mit dem Ellbogen einen Leberhaken, so wird dieser Fall nicht erfasst. Ebenso wenig wie Situationen, in denen Bedienstete verletzt werden, weil sie versuchen, eine Schlägerei unter Gefangenen zu beenden.

 

Wie Erfassungsmodalitäten das Bild verfälschen

 

Der Grund: Diese Ereignisse zählen als „nicht berichtspflichtig“, denn sie ergeben sich aus der Gesamtsituation und sind nicht „zielgerichtet“, also nicht Folge eines geplanten Übergriffs. In der Statistik des Justizministeriums tauchen lediglich Vorfälle auf, die geplant und zielgerichtet sind, Leib und Leben des Beschäftigten bedrohen und erhebliche Verletzungsfolgen nach sich ziehen.

 

„Die Kollegen sind demnach beinahe gezwungen, sich nach einem Übergriff auf ihre Person für einen Tag krank zu melden, um überhaupt die Grundlage dafür zu schaffen, dass der Angriff meldepflichtig wird“, sagt Hirtz. Aufgrund von Personalnotstand, extremer Zahl von Überstunden und aus Rücksicht auf Kollegen geschehe dies jedoch meist nicht.

 

All das macht deutlich, warum die Statistik, die der Rechtsausschuss im Januar 2020 auf dem Tisch hatte, kein realistisches Bild wiedergeben kann. Was wirklich hinter den Gefängnistüren passiert, taucht in der offiziellen Erfassung, wie sie vom Justizministerium erhoben wird, nicht auf.

 

Rückmeldungen von Mitgliedern lassen anderes vermuten

 

Um dennoch ein Lagebild zu bekommen, startete der Bundesverband des BSBD im Jahr 2018 ein eigenes Online-Erfassungssystem. Über das meldeten JVA-Mitarbeiter bundesweit innerhalb weniger Monate mehr als 600 Übergriffe: psychische wie auch körperliche Gewalt.

 

Doch trotz solcher aussagekräftigen Zahlen macht sich nach wie vor unter den Beschäftigten Resignation breit. Denn nicht nur, dass diese Zahlen vom öffentlichen Bild abweichen: „In einer unserer Umfragen berichteten zwei Drittel der Befragten, dass sie keine Unterstützung von Vorgesetzten erhalten, wenn es zu Übergriffen kommt“, sagt Hirtz. Viele melden Übergriffe schon gar nicht mehr, die ihrer eigenen Person gelten. Meist werde auch keine Anzeige gestellt. Die Gründe dafür sind vielfältig.

 

Beschäftigte fühlen sich oft allein gelassen

 

Einige haben sich an die Zustände gewöhnt und nehmen es resigniert als Normalität hin. „Oft führt auch die Erfahrung, dass Strafanzeigen eingestellt werden, dazu, dass die Betroffenen es lieber gleich lassen“, sagt Hirtz. Das belegt auch eine bundesweite eigene Umfrage des BSBD: Rund 70 Prozent gaben darin an, Übergriffe schon gar nicht mehr an die Vorgesetzten zu melden.

 

Diese Situation bleibt für die Betroffenen, die im Dienst angegangen werden und manchmal lange – körperlich oder psychisch – unter den Folgen zu leiden haben, unerträglich. „Wir fordern, dass alle Übergriffe nach den gleichen Kriterien erfasst werden und wir valide Zahlen haben“, sagt Hirtz.

 

Doch nach dem ersten Aufschlag des Rechtsausschusses in Nordrhein-Westfalen ist es nach Januar 2020 ruhig geworden um das Thema. „Dann nämlich kam Corona“, resümiert Hirtz. Das hat die Lage in den Justizvollzugsanstalten eher noch zugespitzt als entspannt. Für die Betroffenen, die permanent Angriffen ausgesetzt sind, verstreicht zusehends mehr Zeit.

 

Politik und Gesellschaft wären gefragt

 

„Es dauert zu lange, bis die Politik etwas tut“, moniert der stellvertretende BSBD-Landeschef. Auch gesellschaftlich wünscht er sich einen Ruck: Wer im Vollzug arbeite – also hinter dicken Mauern – den nehme die Öffentlichkeit nicht mehr wahr. „Wir retten Menschenleben und sorgen dafür, dass ein Straftäter nach dem Vollzug wieder in die Gesellschaft eingegliedert ist“, sagt Hirtz. Dabei leisteten die Beschäftigten in den Justizvollzugsanstalten professionelle Präventionsarbeit und verhindern so, dass Vergewaltiger, Pädophile oder Mörder aus der Haft entlassen werden und die Gesellschaft weiter gefährden. Diese Leistung werde nicht wahrgenommen. Alleine ein wenig mehr Wertschätzung durch die Gesellschaft wäre aus Sicht der BSBD NRW wünschenswert.

 

Grundsätzlich sei es an der Zeit, aus der allgemeinen Corona-Starre zu erwachen, den Stein wieder ins Rollen zu bringen und die politische Diskussion rund um das Thema „Gewalt gegen Justizvollzugsbeamte“ wieder aufzunehmen. „Es darf nicht weiter Zeit verstreichen“, sagt Hirtz.

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