Erlass schafft mehr Sicherheit für Gerichtsvollzieher und Steuerfahnder
07.08.2018 | Betroffenenberichte

Gerichtsvollzieher – unterwegs mit schlechtem Bauchgefühl

Anfang 2016 wird in Hessen einem Gerichtsvollzieher in den Kopf geschossen. In Kassel wird ein Gerichtsvollzieher wegen 500 Euro Zwangsgeld, die er eintreiben sollte, zum 24-Stunden-Pflegefall. Allein in Nordrhein-Westfalen zählt eine interne Statistik, die der Gerichtsvollzieherbund führt, in den letzten drei Jahren rund 500 Übergriffe, sagt Frank Neuhaus, Vorsitzender des Landesverbandes in NRW.

 

Zu der harmlosen Sorte zählen verbale Übergriffe. Über Beschimpfungen wie „Du Idiot!“ kann sich Neuhaus kaum mehr aufregen. Sie gehören zum Standard-Repertoire einiger seiner Kunden. Was ihn trotzdem ärgert: „Die Zahl der Angriffe steigt immer mehr. Auch die körperlichen Attacken werden mehr. Trotzdem gewährt uns die Polizei keinen uneingeschränkten Schutz“, sagt er.

 

Der Grund dafür: Seit 2014 gibt es zwar einen gemeinsamen Erlass des Justiz- und Finanzministeriums, der die Sicherheit der Gerichtsvollzieher erhöhen soll, doch reicht der nach Neuhaus‘ Meinung nicht aus. Demnach können Gerichtsvollzieher die örtliche Polizeibehörde von einer bevorstehenden Zwangsvollstreckung informieren und um Unterstützung bitten, wenn es tatsächliche Anhaltspunkte gibt, die Anlass zur Sorge geben.

 

Bauchgefühl reicht nicht

 

Was sich flüssig liest, zeigt sich in der Realität lückenhaft. „Wir sind oft mit einem unguten Bauchgefühl unterwegs“, sagt Neuhaus. Ein konkreter Anhaltspunkt ist das nicht. Dennoch werden Situationen für ihn im Vorfeld manchmal derart beängstigend, dass er seinem Bauchgefühl nachgibt und Termine auf einen andern Tag datiert. „Mein Bauch sagt mir dann, dass es besser so ist“, sagt der Gerichtsvollzieher offen.

 

Das aber reicht für eine Amtshilfe durch die Polizei nicht aus, denn der Erlass hält fest: „Allein die Vermutung, dass eine Gefahr bestehen könnte, weil der Schuldner unbekannt ist, ist nicht ausreichend.“ Neuhaus findet, dass der Erlass nachgebessert werden sollte. „Es muss mehr auf die Eindrücke der Gerichtsvollzieher eingegangen werden“, sagt er.

 

Alltag kann in Sekunden in Lebensgefahr umschlagen

 

Für viele Gerichtsvollzieher ist das unbefriedigend. Denn sie sind sich der Gefahr, die von ihrer Arbeit ausgeht, durchaus bewusst. Doch sie sind grundsätzlich immer alleine unterwegs, können also nicht auf Hilfestellung durch eine Kollegin oder einen Kollegen hoffen. Alltagssituationen eines Gerichtsvollziehers können innerhalb weniger Sekunden in Gefahr umgeschlagen: Eine Hausräumung beispielsweise ist für einen Gerichtsvollzieher eine Routinesituation. „Für den betroffenen Menschen ist es hingegen eine der extremsten Situationen in seinem Leben.“ Dass das Gegenüber in einer solchen Situation die Nerven verlieren kann, ist gut vorstellbar.

 

Darum passieren Situationen wie die 2012 in Karlsruhe immer wieder: Bei einer Zwangsräumung tötet ein 53-Jähriger einen Gerichtsvollzieher, einen Schlosser und den Eigentümer der Wohnung mit einem Kopfschuss. Seine ebenfalls erschossene Lebensgefährtin findet man später neben ihm im Schlafzimmer. Er richtet sich selbst ebenfalls mit einem Kopfschuss.

 

„Man sieht den Leuten nicht an, was in den Köpfen vor sich geht“

 

Auch andere Situationen – wie eine Pfändung – können gefährlich werden. Viele empfinden das als massiven Eingriff in ihre Privatsphäre. Auch Verena Schröder, Obergerichtsvollzieherin in Berlin, kennt viele Geschichten, in denen die Stimmung plötzlich umschlägt. Ein Kollege wird durch einen Axtangriff schwer verletzt, ein anderer bekommt bei der Zustellung eines Schriftstücks eine Eisenstange über den Kopf gezogen. „Man sieht den Leuten nicht an, was in den Köpfen vor sich geht“, sagt sie.

 

Wenn Not am Mann ist, bleibt ihnen der Griff zum Handy, um die 110 zu wählen. Es sei jedoch schon vorgekommen, dass die Notrufnummer in eine Warteschleife führte. – Dumme Lage. „Ich hatte bisher einfach Glück“, sagt sie. Nicht alle Kollegen haben das. „Eine Kollegin wurde mutmaßlich im Zusammenhang mit ihrer beruflichen Tätigkeit überfallen und beraubt“, sagt Schröder.

 

Was die Situation verbessern würde

 

Was nach Neuhaus‘ Ansicht helfen würde: Hilfssender, die Kollegen mitnehmen und die in Notsituationen aktiviert werden können. „In Baden-Württemberg sind sie bereits getestet worden und werden da voraussichtlich eingeführt“, so der Vorsitzende des Gerichtsvollzieherbundes NRW.

 

Schröder wünscht sich zudem einen besseren Hilfeplan, wenn es zu Übergriffen gekommen ist. Dazu zählt ihrer Meinung nach zum Beispiel eine Checkliste, die nach einem Dienstunfall strukturiert bei der Organisation von Hilfe unterstützt – sowohl den Dienstherrn als auch die Betroffenen. „Denn Unterstützung von den Vorgesetzten wäre wichtig“, sagt sie.

 

Schröder findet zudem, dass mögliche psychische Folgen nach Übergriffen – wie zum Beispiel posttraumatische Belastungsstörungen – zu wenig im Fokus sind. Sie bemängelt, dass die Unfallanzeigen teilweise noch nicht einmal die Anzeige traumatischer Ereignisse berücksichtigte. Ihrer Meinung nach gibt es noch eine Menge zu tun in den örtlichen Verwaltungen der Amtsgerichte, bei den Fortbildungen der Vorgesetzten und im Gesundheitsmanagement der Behörden.

 

Erste Verbesserungsschritte sind gemacht

 

Als Schritte in die richtige Richtung wertet sie die in den letzten Jahren in der Justiz fest installierte Sozialberatung, die unter anderem auch Traumaberatung durch geschulte Mitarbeiter anbietet. Das Land Berlin hat eine eigene Gewaltschutzambulanz installiert, die kostenfrei ein rechtsmedizinische Begutachtung und Dokumentation von sichtbaren Verletzungen anbietet.

 

Ein kleiner Lichtblick in NRW: Die Intensität der Deeskalationsschulungen ist erhöht worden. „Sie lagen zuvor vom Umfang her bei 14 Stunden und wurden auf 60 Stunden erhöht“, sagt Neuhaus. In Baden-Württemberg sieht es noch besser aus: Hier werden die Gerichtsvollzieher mehr als 140 Stunden in Schuldnerabwehr und Deeskalation geschult.

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