Leuchtturmprojekt: So schützt die Stadt Köln ihre Mitarbeiter vor Übergriffen
Bei einem Hausbesuch wird ein 47-jähriger Mitarbeiter der Kämmerei unvermittelt angegriffen und tödlich verletzt. Seit diesem Ereignis vor rund anderthalb Jahren hat die Stadt Köln mit Hochdruck an einer Idee gearbeitet, die dazu beitragen soll, die die Sicherheit der Beschäftigten zu erhöhen. Das Meldesystem, das daraus entstand, ist jetzt seit einem Jahr am Start – und einzigartig in Deutschland.
Es war ein beruflicher Einsatz wie viele andere auch. Doch endete er für einen Beschäftigten der Kämmerei in Köln tödlich. Das Datum hat sich in die Köpfe vieler Kollegen eingebrannt. Es war der 13. Dezember 2019. Gemeinsam mit einer Kollegin klingelte der damals 47-Jährige an einem Mehrfamilienhaus, um dort bei einem säumigen Bürger Geld einzutreiben. Laut Polizeibericht öffnete der Besuchte die Haustür und griff die beiden Stadtbediensteten an der Wohnungstür sofort mit einem Messer an. Der 47-Jährige verlor sein Leben, seine Kollegin kam mit einem schweren Schock davon.
Mitarbeiter der Vollstreckung starten sicherer in den Tag
Wenn heute die Beschäftigten der Vollstreckung morgens ihren Tageseinsatz planen, gehört eine neue Routine dazu: Die Mitarbeiter prüfen über das Meldesystem ZeMAG (Zentrales Melde- und Auskunftssystem bei Gefährdungen von Mitarbeitern), ob auf ihrer Liste Personen zu finden sind, die bereits durch Übergriffe auf Beschäftigte der Stadt Köln aufgefallen sind. Gefüttert wird diese Datenbank von allen Beschäftigten der Kommunalverwaltung, die im Job einen massiven Übergriff erlebt haben. So können ihre Kollegen – wenn nötig – Vorsorge treffen und geraten nicht in dieselbe Situation.
Vor etwa einem Jahr ist das in Deutschland einzigartige Meldesystem an den Start gegangen. Der Stadt Köln ist damit ein großer Wurf gelungen, der nicht nur bei zahlreichen anderen Kommunen auf Interesse stößt, sondern auch beim nordrhein-westfälischen Innenminister.
NRW-Innenminister Reul befürwortet Meldesysteme
Das kommt nicht von ungefähr. In Zusammenhang mit dem tödlichen Messerangriff hatte sich NRW-Innenminister Herbert Reul bereits im Jahr 2019 für Meldesysteme für Übergriffe auf Amtsträger ausgesprochen. „Wir müssen alle Informationen, die vorliegen, auch verlässlich denjenigen zugänglich machen, die auf der Straße oder an den Haustüren im Einsatz sind“, sagte der Minister damals gegenüber dem „Kölner Stadt-Anzeiger“. Der steigenden Zahl von Übergriffen auf Amtsträger, städtische Bedienstete, Polizisten und Rettungskräften müsse man mehr entgegensetzen.
Die Stadt Köln hat nicht lange gezögert. „Für unseren Kollegen aus der Kämmerei kommt das System leider zu spät“, bedauert Dolores Burkert, Leiterin des Zentrums für Kriminalprävention und Sicherheit der Stadt. Doch zeigt ein erstes Resümee, wie sinnvoll dessen Implementierung Anfang Mai 2020 war.
Ein Jahr nach dem Start wird die hohe Zahl an Übergriffen sichtbar
107 Fälle wurden seitdem über ZeMAG gemeldet. „Das ist eine erschreckend hohe Zahl“, kommentiert Burkert. Dabei werden im Meldesystem ausschließlich Übergriffe eingetragen, die ein gewisses Maß überschreiten. Beleidigungen sind im Meldesystem also gar nicht zu finden. Gleichwohl wird bei jedem Übergriff – gleich welchen Ausmaßes – automatisch Strafanzeige erstattet. Auch das ist der Sicherheitsexpertin wichtig. Die Stadt hat eine Null-Toleranz-Verpflichtung verabschiedet, mit der sie deutlich machen möchte, dass keinerlei Übergrifflichkeiten geduldet werden, auch keine Beleidigungen.
Da stellt sich die Frage: Was sind Übergriffe, die ein gewisses Maß überschreiten? „Das sind Fälle, die analog den Gefährdungslagen des Aachener Modells der Stufe 2 und 3 entsprechen“, erläutert die Leiterin des Sicherheitszentrums. Das sind ausschließlich Übergriffe, die den Tatbestand einer Bedrohung, Nötigung oder Sachbeschädigung erfüllen, Handgreiflichkeiten und körperliche Gewalt wie Schläge oder Tritte – in Gefährdungsstufe 3 – und lebensbedrohliche Situationen, die beispielsweise durch Waffeneinsatz entstehen können.
Zwölf Fälle mit Lebensbedrohung
Die erschreckende Bilanz des ersten Jahres: „Wir haben zwölf Fälle der höchsten Gefahreneinstufung registrieren müssen“, sagt Burkert. „Da sprechen wir von Lebensbedrohung!“ Darunter ist ein Fall, in dem eine Politesse mit Benzin übergossen wurde. Ein anderer Fall, in dem ein Stadtbeschäftigter einen Schlüssel ins Gesicht geworfen bekam. Zwei Fälle, in denen erzürnte Bürger ins Auto stiegen und auf Ordnungsamtsmitarbeiter zurasten. Situationen, in denen sich die Betroffenen nur durch beherzte Sprünge retten konnten. „Bei vielen Fällen denkt man: Wo sind wir hier eigentlich?“, kommentiert die Sicherheitsexpertin die Gesamtsituation. Was zudem durch die Erfassung in ZeMAG sichtbar wurde: Man erkennt eine Fallzahlzunahme seit Beginn der Pandemie. Die Aggression nimmt also noch weiter zu.
Werden Aggressoren in ZeMAG erfasst, bekommen diese Post nach Hause. Darin wird ihnen mitgeteilt, dass sie für eine befristete Zeit im Meldesystem erfasst sind und welche Daten von ihnen konkret dort abgespeichert sind. In enger Zusammenarbeit mit dem Datenschutzbeauftragten der Stadt hat man dazu im Vorfeld Kriterien für die Datenerfassung erarbeitet und Löschfristen festgelegt. Denn die Stadt ist sehr darauf bedacht, das durchdachte und hilfreiche Sicherheitstool nicht aus Gründen datenschutzrechtlicher Bestimmungen einstellen zu müssen.
Hoffen auf eine baldige Gesetzesgrundlage
Aus diesem Grund hoffen die Verantwortlichen auch darauf, dass es schon bald eine konkrete Rechtsgrundlage geben wird, die dafür sorgt, dass weder die Macher solcher Meldesysteme noch die Datenschutzbeauftragen ständig Bauchschmerzen haben müssen.
Das wäre auch aus anderem Grund wünschenswert – denn das Kölner Meldesystem kann mehr. Es gibt nicht nur Auskunft darüber, welche Personen in jüngster Zeit durch Übergriffe auffielen, es wird auf Dauer auch statistikbasierte Aussagen darüber zulassen, in welchen Bereichen es am häufigsten zu Übergriffen bekommt oder wie hoch die Anzahl der Mehrfachtäter ist. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass vor allem Ordnungsdienste, die Vollstreckung und das Jugendamt mit dem Allgemeinen sozialen Dienst besonders betroffen sind.
Deren Beschäftigte können künftig bereits von ihren Außendiensten aus über das Smartphone Zwischenfälle eintragen. Noch bevor sie wieder in der Behörde eintreffen, ist somit der Vorgesetzte bereits über den Zwischenfall informiert und kann rechtzeitig weitere Hilfsmaßnahmen antreten – auch das soll komplett über das komplexe Meldesystem möglich sein.
ZeMAG wird fast zur eierlegenden Wollmilchsau
ZeMAG dirigiert jeden Anwender durch einen kompletten Workflow, der von der Erfassung des Ereignisses auch automatisch den Link zu Formularen zur Strafanzeige auf dem Monitor erscheinen lässt und daran erinnert, dass auch das Formular zur Unfallanzeige ausgefüllt werden muss. Auch das sei nötig, weil sich direkt nach einem Übergriff nicht immer alle Folgen für den Beschäftigten absehen lassen.
Burkert schildert ein Beispiel aus der Vergangenheit: Angehörige der autonomen Szene stürmten damals das Stadthaus und drangen auch vermummt in die Büros einiger Mitarbeiter ein. Dabei sei es zwar nicht zu körperlichen Angriffen gekommen, doch zu seelischen Folgen. Wochen später klagten einzelne Mitarbeiter über anhaltende Angstzustände und andere psychische Beeinträchtigungen. Durch die Unfallmeldung ist abgesichert, dass die berufliche Versicherung gleich einspringt und Gesundheitsschäden ausgleicht, die Versicherte im Job erleiden – von der Akutbehandlung bis hin zur Reha oder Wiedereingliederung.
Was das Meldesystem noch lernen soll: „Wir möchten Straf- und Unfallanzeigen so in den Workflow integrieren, dass man das Formular auch gleich an Ort und Stelle über das System ausfüllen und abschicken kann“, sagt Burkert. Ebenso soll es auch die Möglichkeit integrieren, Hausverbote rechtlich abgesichert zu verschicken.
„Alle ziehen an einem Strang“
„Es geht um Leben!“, sagt Burkert. Die Motivation, das System weiterzuentwickeln und zu optimieren ist darum in der ganzen Stadtverwaltung extrem hoch. „Es ziehen alle an einem Strang“, berichtet die Leiterin des Bereichs. Aus den einzelnen Dienststellen kommen regelmäßig Rückmeldungen, die bei der Verbesserung und dem Ausbau von ZeMAG helfen.
Längst beraten die Mitarbeiter des Zentrums für Kriminalprävention und Sicherheit andere Ämter hinsichtlich ergänzender Schulungsmaßnahmen für die Beschäftigten. Dabei schildern die Ämter das vorherrschende Problem und bekommen dann passgenau Seminarempfehlungen.
Diese Maßnahmen ergänzen in Köln das Meldesystem
Das ausgeklügelte System ergänzt andere Maßnahmen wie Besuchersteuerungen oder allgemeine Sicherheitsschulungen für die Beschäftigten. Hinzugekommen sind seit neuestem ergänzend zu Deeskalationskursen auch Eigenschutzseminare. „Dort lernen die Beschäftigten, wie sie sich bei Hausbesuchen bewegen sollten, um das Risiko für plötzliche Übergriffe zu senken“, sagt Burkert. Wo stelle ich mich hin? Wie bewege ich mich, um stets in einer sicheren Position zu sein und mich nicht unbedacht in eine Position ohne Fluchtmöglichkeit zu bringen? Wer diesen Fokus hat, kann selbst bereits viel für seinen Schutz tun.
Neue Wege geht man in Köln auch mit einem Seminarangebot zur Abwehr von Messerangriffen. „Das ist für eine Verwaltung etwas völlig Neues“, sagt die Sicherheitsexpertin der Stadt. Entsprechend sei es gerade zu Beginn sehr kontrovers diskutiert worden. Mancher hatte Sorge, man schüre so möglicherweise die Sorge unter den Beschäftigten. Inzwischen aber hat sich die Praxistauglichkeit herumgesprochen. Es geht um Tipps, die Leben retten können.
Sobald die gesetzliche Grundlage und Rechtssicherheit in Fragen um das Speichern von Daten geschaffen ist, wollen die Kölner das System kostenlos allen interessierten Kommunen weitergeben – dem Pioniergeist sei Dank. Auch, wenn die Entwicklungskosten und der umfangreiche Arbeitsaufwand des einzigartigen Projekts in der Domstadt hängen bleiben. In Köln jedenfalls wünscht man sich, dass ZeMAG irgendwann überall Menschenleben schützen kann.