Mehr Anfeindung und Gewalt gegen Mandatsträger im Corona-Jahr
Mit der Zunahme der Gewaltbereitschaft gegenüber Beschäftigten im Öffentlichen Dienst nimmt seit Jahren auch die Aggression gegen Politiker zu. Was jedoch besonders aufschreckt: Im Corona-Jahr 2020 gab es 57 Prozent mehr Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger. Die Einzelheiten.
Beleidigung, Nötigung oder Bedrohung: Das Spektrum der Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger ist breit und die Zahl der Übergriffe hoch. 2.629 Straftaten wurden in einer vorläufigen Auswertung des Bundesinnenministeriums erfasst. Das entspricht einem Zuwachs von 57 Prozent.
Corona macht manche aggressiv
Eine Ursache dafür sieht das Bundesinnenministerium laut einem Beitrag der Tageszeitung „Die Welt“ vor allem in den staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Es mache sich zunehmend Protest und Widerstand gegen den Staat und seine Repräsentanten breit. Wie hoch der durch die Pandemiesituation motivierte Anteil sei, lasse sich nicht genau beziffern, weil es unter anderem keinen bundeseinheitlichen Meldebegriff gebe. Doch ist nach Einschätzung der Behörden bei 374 Straftaten gegen Amts- und Mandatsträger von mindestens 14 Prozent Corona-motivierter Angriffe auszugehen.
„Bedrohung und tätliche Übergriffe auf Kommunalpolitikerinnen und Kommunalpolitiker und Repräsentanten des Staates haben ein unerträgliches Ausmaß erreicht“, kommentiert der Deutsche Städte- und Gemeindebund. Diese Entwicklung sei besorgniserregend und nicht hinnehmbar.
„Gewalttätiges Verhalten ist nicht duldbar“
Reinhard Sager, Präsident des Deutschen Landkreistages, spricht sich in diesem Zusammenhang für ein konsequentes rechtsstattliches Vorgehen aus. Man müsse im täglichen Miteinander immer wieder deutlich machen, dass so etwas in der Gesellschaft nicht duldungsfähig sei. Neben Landräten weiß er auch von ehrenamtlichen Mitgliedern der Kreistage, die von Aggression und Gewalt betroffen seien, sowie von Mitarbeitern der Sozial- und Jugendämter, der Ausländerbehörden, Veterinärämter und der Kommunalverwaltung. Es gehe alle etwas an, wenn Menschen wegen ihres gesellschaftlichen Einsatzes bedroht würden, so formuliert es Thomas Krüger, Präsident der Bundeszentrale für politische Bildung.
Konsequente Strafverfolgung ist nötig
„Wenn Politiker oder andere Beschäftigte im Öffentlichen Dienst in Ausübung ihrer Tätigkeit für die Gesellschaft angegriffen werden, dann ist das ein Angriff auf die Demokratie“, sagt Moritz Pelzer, Vorsitzender der Deutschen Beamtenbund-Jugend NRW (dbb jugend nrw). Aus diesem Grund habe der gewerkschaftliche Jugenddachverband schon vor einigen Jahren nicht lange gezögert und eine breite öffentlichkeitswirksame Kampagne gestartet sowie sich für eine konsequente Verfolgung derartiger Straftaten ausgesprochen.
„Wenn wir zurückblicken, können wir mit Fug und Recht behaupten, eine Menge in Bewegung gesetzt zu haben“, sagt Pelzer. So gehen verschiedene Initiativen des nordrhein-westfälischen Landtags – wie beispielsweise eine Entschließung, Mitarbeiter des Öffentlichen Dienstes und Kommunalpolitiker vor Übergriffen besser schützen zu wollen – unter anderem auf die Initiative der dbb jugend nrw zurück. „Wir haben keine Gelegenheit ausgelassen, das Thema sowohl bei den Dienstherren als auch auf breiter politischer Ebene anzusprechen und Verbesserungen einzufordern“, betont der Chef des gewerkschaftlichen Jugenddachverbandes.
Zum Teil seien diese zwar realisiert worden, doch die Forderung nach einem zentralen Melderegister für Angriffe auf Beschäftigte im Öffentlichen Dienst sei immer noch unerfüllt. Nach Auffassung Pelzers sei diese Forderung nach wie vor wichtig. Man müsse die Übergriffe sichtbar machen und zudem unnachgiebig verfolgen. Geschehe dies nicht, fürchten er ebenso wie die Vertreter des Deutschen Städtetages, dass die Demokratie Schaden nehmen könne.
Bürgermeister traten zurück, um sich und ihre Familie zu schützen
Nach Übergriffen auf Bürgermeister, Landes- oder Bundespolitiker – man erinnere sich an den Mord an CDU-Politiker Walter Lübke – sei beispielsweise die Besetzung kommunaler Haupt- und Ehrenämter gefährdet. Schon in der Vergangenheit kam es nach Bedrohungen zu Rücktritten. So beispielsweise im niedersächsischen Estorf. Dort war im Jahr 2020 der Bürgermeister wegen rechtsextremer Übergriffe, Schmierereien und Morddrohungen zurückgetreten. Einige Jahre zuvor zog auch ein Politiker in Tröglitz nach Drohungen und Aufmärschen vor seiner Haustüre die Reißleine und trat von seinem Amt als Bürgermeister zurück.
Der Deutsche Städte- und Gemeindebund sieht nur dann eine Option auf Wandel, wenn sich nach Übergriffen oder Bedrohungen Justiz- und Ermittlungsbehörden unnachgiebig zeigten und es zudem gelinge, einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs zu erreichen.
Internet darf nicht als rechtsfreier Raum betrachtet werden
„Dies sollten wir auch auf Bedrohungen, Nötigungen und Beschimpfungen im Internet oder über soziale Netzwerke beziehen“, sagt Pelzer. Denn auch das Internet sei kein rechtsfreier Raum. Die Anonymität des Internets befördere ein solches Verhalten. Auch das Innenministerium sieht in der vermeintlichen Anonymität eine Ursache für zunehmenden Verbalradikalismus und strafrechtlich relevante Äußerungen.
Nach Auswertung des Bundesinnenministeriums waren rund 370 Straftaten linksradikal motiviert. Mehr als 900 seien dem rechtsradikalen Lager zuzuschreiben. Besonders besorgniserregend findet Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, auf deren Anfrage hin die Auswertung im Innenministerium angestoßen worden war, dass ein hoher Anteil der Straftaten der Reichsbürgerszene zuzuschreiben sei.
Besonders oft waren Amts- und Mandatsträger der AfD Opfer eines Übergriffs: nämlich in 863 Fällen. Zum Vergleich: Unionspolitiker wurden in 306 Fällen zum Opfer von Übergriffen, 293 SPD-Politiker, 252 Grüne, 192 Linke und 56 Mitglieder der FDP. 102 Straftaten entfallen auf Mitglieder von Parteien, die nicht im Bundestag vertreten sind.