07.11.2017 | Bestandsaufnahme

Offene Türen in der Behörde: so war es mal

Während vergangenen Freitag Sanitäter in Berlin-Moabit einem bewusstlosen Einjährigen das Leben retten wollen, werden sie von einem Autofahrer attackiert. Der Mann setzt ganz andere Prioritäten: „Verpisst euch, ich muss zur Arbeit!“ Übergriffe wie diese gegen Beschäftigte im Öffentlichen Dienst nehmen zu. Oder nehmen wir sie nur anders wahr? Die dbb jugend nrw hat sich auf Spurensuche begeben.

 

Manchmal braucht es nicht viel. Schon wenn die Tür im Jobcenter oder Finanzamt aufgeht, kann man meist in Sekundenschnelle erahnen, was dann kommt. Dass das immer häufiger unfreundliche, manchmal sogar gefährliche Begegnungen sind, stellen die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst in allen Bereichen fest. Als die dbb jugend nrw im April 2016 mit ihrer Kampagne „Gefahrenzone Öffentlicher Dienst“ an die Öffentlichkeit ging, war die Anzahl der Berichte von Mitgliedern aus den eigenen Reihen weit angestiegen. Es war längst mehr als nur das diffuse Gefühl, irgendetwas habe sich grundlegend geändert im Öffentlichen Dienst und im gesellschaftlichen Umgang miteinander.

 

Aber was? Wie war es vor 30 Jahren im Öffentlichen Dienst? „Früher war der Respekt vor einer Behörde und deren Vertretern ein ganz anderer“, sagt Hans Burggraf, Vorsitzender vom Seniorenverband „Bund der Ruhestandsbeamten, Rentner und Hinterbliebenen“ (BRH) in NRW. Wer aufs Amt ging, der zog sich gepflegt an, wartete geduldig bis er an der Reihe war und klopfte an, bevor er ein Zimmer betrat.

 

Früher offene Türen, heute hohe Barrieren

 

Die Behörde: ein offenes Haus. „Wir hatten immer offene Türen.“ Heute hingegen seien strenge Kontrollen nötig. „Es ist eine völlig neue Zeit“, sagt Burggraf. Behörden als öffentliche Häuser – in den Köpfen ist diese Vorstellung auch heute noch präsent. Aber vielerorts lässt sie sich nicht mehr leben. Nach Übergriffen, die mit dem Tod von Beschäftigten enden, und nach der Zunahme heftiger Ausraster, sind Behördenleitungen gezwungen, über Veränderungen nachzudenken, um ihre Mitarbeiter besser zu schützen. Eingangsbereiche mit Pförtnern, Sicherheitsschleusen oder hohe Glaswände – wie im Bürgerbüro der Stadt Bonn. Dort entschied man sich für diese Maßnahme, nachdem dort zum wiederholten Mal Probleme auftraten. Zuletzt war eine Mitarbeiterin mit einem Telefonhörer am damals noch offenen Tresen attackiert worden.

 

Der Gedanke des offenen Hauses reichte damals so weit, dass Behördenkantinen auch von der Bevölkerung aufgesucht wurden. Im Amtsgericht Senioren beim Mittagstisch zu sehen – das war keine Seltenheit. „Im Finanzamt als normaler Bürger auch mal eine Tasse Kaffee zu trinken – kein Problem“, erinnert sich Burggraf.

 

„Wir waren schockiert“

 

Wer solche Zeiten selbst miterlebt hat, der kann die Entwicklung heute kaum fassen. „Ich erinnere mich, dass die dbb jugend nrw berichtete, dass die Hälfte der Beschäftigten im Öffentlichen Dienst schon einmal oder mehrfach angegriffen worden ist“, sagt der Vorsitzende Hans Burggraf. Dieses Ergebnis machte der gewerkschaftliche Jugenddachverband nach einer größeren Umfrage auf der Kampagnen-Website www.angegriffen.info publik. „Wir waren schockiert“, sagt Burggraf. So sehr, dass man in den Reihen der ehemaligen Beamten und Angestellten einen Abend lang über die Veränderungen in dem Bereich diskutierte, in dem man selbst sein ganzes Berufsleben verbracht hatte.

 

48 Jahre hat beispielsweise Werner Beckmann im Öffentlichen Dienst gearbeitet. Bis zu dem Zeitpunkt, als er 1999 seine Pension antrat, sei er niemals persönlich verbal oder gar körperlich angegriffen worden. Gleiches bestätigt er stellvertretend für die Kollegen in seinem Umfeld. Von solchen Zuständen wagt heute kaum mehr jemand zu träumen. Zwar galten Bereiche wie Sozial- oder Arbeitsämter auch damals schon als raues Umfeld, doch nicht in der Weise, in der heute davon zu hören ist.

 

Werte nehmen ab, Egoismus nimmt zu

 

In Familien und Schulen seien stärker Werte vermittelt worden. Die Sorgen der Beschäftigten lagen damals eher im Bereich der „Alt-Achtundsechziger“, die mit ihrer Sichtweise mit den gewohnten Ansichten brachen. Manch einer aus der Runde der BRH-Mitglieder sieht das als Wendepunkt und Übergang in eine neue Zeit und macht daran sogar die Zunahme von Egoismus sowie die Abnahme von Solidarität in der Gesellschaft fest.

 

Nur ein einziger in der Runde wusste aus eigener Erfahrung von einem Übergriff zu berichten. Er – von Beruf Lehrer – sei einmal von einem Schüler bedroht worden. Die Situation habe er aber selber schnell in den Griff bekommen.

 

Übergriffe müssen zählbar werden

 

Inzwischen zeigen zahlreiche Umfragen und Statistiken, dass es zu einer Zunahme der Gewalt gegen die Beschäftigen im Öffentlichen Dienst gekommen ist – und das nicht nur landes-, sondern sogar bundesweit. Bei den Lehrern ist das so, wie eine kleine Anfrage an die Landesregierung NRW zeigte, bei den Polizisten, bei den Bahnbediensteten und auch bei den Rettungskräften. Auch immer mehr Kommunalverwaltungen beginnen damit, Übergriffe zu dokumentieren und somit zählbar zu machen.

 

„Immer noch fehlt es allerdings an einem einheitlichen Instrument, um Zwischenfälle in allen Bereichen des Öffentlichen Dienstes zu erfassen“, sagt Moritz Pelzer, Vorsitzender der dbb jugend nrw. Darum drängt der gewerkschaftliche Jugenddachverband auf eine gesonderte Dokumentation in der Polizeilichen Kriminalstatistik. Für Polizei und Rettungskräfte wird sie dort bereits gemacht.

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