In Pandemiezeiten nehmen die Übergriffe zu - vor allem im Netz
19.12.2017 | Im Gespräch

Verbalattacken – Alles nur ein Missverständnis?

Pöbeleien in der Bahn, Schimpftiraden auf dem Schulhof, Beleidigungen im Internet: Verbal wird immer weiter aufgerüstet und Sprache verroht immer mehr – so empfinden es viele. Stimmt gar nicht, meint Linguist Nils Beckmann – und erklärt, wie er das so sieht mit der Sprache.

 

Augenhöhe, Respekt und Wertschätzung – das sind drei Dinge, die sich jeder wünscht. Doch beinahe jeder kann eine Geschichte erzählen über verbale Unfreundlichkeiten oder gar Beschimpfungen. Lehrer klagen über den rauen Umgangston und Polizisten können gar nicht so viele Beamtenbeleidigungen aufschreiben, wie ihnen entgegengeschleudert werden. Auch auf der Straße beschleicht einen das Gefühl, es habe sich etwas verändert in der Art und Weise, wie Menschen hierzulande miteinander sprechen. Über Verrohung von Sprache ist zu lesen und selbst Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier beklagt die zunehmend schlechten Umgangsformen im Internet.

 

„Sprache verroht gar nicht“

 

„Egal, ob man mit Führungskräften oder Schülern spricht: Alle wünschen sich, dass man respektvoll miteinander umgeht“, sagt auch Linguist Nils Beckmann. Bei der Podiumsdiskussion zum Thema „Gewalt beginnt mit Worten: Sprache von heute bestimmt das Handeln von morgen!“ auf dem Landesjugendtag der dbb jugend nrw im April war Beckmann Moderator. Jeder Sprachwissenschaftler würde der Behauptung widersprechen, dass Sprache verroht, sagt er. Veränderungen in der Sprache habe es immer gegeben. Wie genau sie eingesetzt werde, hänge maßgeblich von ihrem Umfeld ab. Schüler sprechen anders als Juristen – und die wiederum anders als Handwerker auf einer Baustelle. Es ist akzeptiert, dass der Ton unter ihnen rauer und direkter ist.

 

Beckmann gibt ein weiteres Beispiel: „Hey, Alter! Du Opfer!“ Wenn Jugendliche so miteinander sprechen, kommt diese Art der Kommunikation einem außenstehenden Zuhörer vielleicht unangemessen vor. „Die Frage ist aber“, sagt Beckmann: „In welchem Kontext wurde das gesagt und wie nehmend die Jugendlichen das wahr?“ Im jugendlichen Umfeld gelten derartige Ausdrücke nämlich als normal. Niemand würde Anstoß daran nehmen, weil sie einfach zur Jugendsprache zählen.  So hat jede Gruppe ihre eigene Sprache – Sprachcodes nennen das die Linguisten.

 

Auf den Kontext kommt es an

 

„Es ist eine Kompetenzfrage, differenzieren zu können, wo welche Wörter verwendet werden“, sagt Beckmann. Wenn der Kontext nicht stimmt, wird es als unpassend wahrgenommen. Eine Schülerin, die einen Mitschüler mit den Worten „Alter, mach mal Patz!“ zur Seite schiebt, wird bei diesem vermutlich einfach nur erreichen, dass er der Aufforderung nachkommt. Würde sie das in der Bahn zu einem Mitreisenden sagen, würde die Wortwahl unangenehm auffallen und als unpassend und frech empfunden werden.

 

„Es kommt also darauf an, jungen Menschen beizubringen, dass es in einem anderen Kontext auch eine andere Sprache geben muss“, sagt Beckmann. Es brauche Kompetenz, das zu unterscheiden. Daran mag es auch scheitern, wenn es in Behörden zu verbaler Entgleisung kommt. Menschen aus anderem kulturellen oder sozialen Umfeld sprechen anders. Manche Pöbelei oder mancher Verbalangriff mag sich auch daraus erklären. Bedenken Menschen nicht – vor allem in sich hoch schaukelnden emotionalen Momenten – in welchem Umfeld sie sich befinden, kann ein Ausspruch, der andernorts nicht einmal ein müdes Achselzucken hervorrufen würde, zum Eklat führen.

 

Sehen, wie viel Gewalt in Sprache steckt

 

Darum hält Beckmann den Ansatz für falsch, Sprache verändern zu wollen. Es sei vielmehr nötig, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass sie unterschiedlich verwendet werde – und unterschiedlich verwendet werden müsse. Zudem sei es wichtig, den Blick dafür zu schärfen, wie viel Gewalt auch mit Sprache ausgedrückt werden kann.

 

Zudem weist Beckmann auf eine weitere Falle im Sprachgebrauch hin: Wenn wir sprechen, tun wir das situativ und auch intuitiv. Das heißt: In der Regel haben wir nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, was wir als nächstes sagen werden. Genau darin kann eines der Probleme liegen, das dazu führt, dass Gesprächssituationen in Behörden manches Mal eskalieren und in Beschimpfungen oder unpassenden Kommentaren enden. „Manche Leute befinden sich dort vielleicht in einer sehr emotionalen Situation. Sie haben eine unterschiedlich hohe Frustrationstoleranz“, sagt Beckmann. Wenn jemand zum wiederholten Mal wegen einer Angelegenheit wiederkomme, sei die Frage, wie gut er selber in dem Moment damit umgehen könne. Das entschuldigt einen verbalen Ausfall nicht, erklärt ihn aber möglicherweise.

 

Warum Hasskommentare so drüber sind

 

Anderes Beispiel: Hasskommentare im Internet. Auch manche Berichte der dbb jugend nrw über das Thema Gewalt gegen Beschäftigte im Öffentlichen Dienst haben im Internet Hasskommentare provoziert. Viele Leser waren tief schockiert über das, was zum Auftakt der Kampagne „Gefahrenzone Öffentlicher Dienst“ unter einem Video stand, in dem ein wirklichkeitsgetreuer Angriff auf eine Behördenmitarbeiterin nachgestellt wurde. Viele Kommentatoren sympathisierten mit dem Angreifer im Video, der eine Behördenmitarbeiterin niederschlägt und das Büro verwüstet.

 

„Ich kann den Typ vollstens verstehen, am liebsten würde ich dieses drecksamt samt Mitarbeiter alles in schutt und asche legen, letzten arschlöcher da, braucht kein mensch“, schrieb beispielsweise ein User darunter. Die Sache ist: „Es ist etwas anderes, etwas anonym zu kommentieren als der Person direkt gegenüber zu sitzen“, sagt Beckmann. Auch Hate Speech komme meist als spontane Reaktion auf etwas zustande. Da wird nicht reflektiert und auch nicht empathisch reagiert. „Das ist nicht wie ein Brief, den man einen Tag liegen lässt, um dann erneut darüber zu lesen.“ Oft gehe es den Kommentatoren zudem einzig und alleine um Aufmerksamkeit.

 

Was also tun? Wer an dem harschen Umgangston etwas ändern will, dem bleibt nur:

 

  1. Selbst mit gutem Beispiel voran gehen.
  2. Weiter dafür sensibilisieren, dass Sprache in verschiedenen Umfeldern anders ankommt – und das schon im Elternhaus.
  3. Von Jugendlichen keine Erwachsenensprache erwarten.
  4. Auf andere soziale und kulturelle Hintergründe Rücksicht nehmen.
  5. Im Zweifel ist es wichtig, den Dialog zu suchen und mit dem Gegenüber darüber zu sprechen, welche Bedeutung eine Aussage für das Gegenüber hat.
  6. Bloß nicht mit Aggression reagieren. Wer einen Beschimpfenden beschimpft, der macht nichts besser. Besser ist es, über der Verbalattacke zu stehen. Das ist nicht leicht, sorgt aber für Deeskalation.
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