02.03.2023 | Im Gespräch

Gewaltforscher: Warum Gewalt gegen Staatsbedienstete zunimmt

Nach den Übergriffen auf Einsatzkräfte über Silvester und jüngst in Trier als rund 40 Menschen mit Eisenstangen und Flaschen auf Polizeibeamte losgingen, half Gewaltforscher Ulrich Wagner die Ereignisse einzuordnen. Jetzt sprachen wir mit ihm über Ursachen von Gewalt, die nicht nur die Polizei und Rettungskräfte betrifft und darüber, warum körperliche Angriffe von verbalen unterschieden werden sollten.

 

In Ibbenbüren ließ eine Lehrerin nach einem tödlichen Angriff durch einen Schüler ihr Leben, Silvester flogen Böller absichtlich nicht in den Himmel, sondern auf Einsatzkräfte. – „Deutschland ist ein sicheres Land“, sagt Sozialpsychologe und Gewaltforscher Ulrich Wagner und schafft dadurch einen scheinbaren Widerspruch. Die Polizeiliche Kriminalstatistik 2021 (PKS) belegt, was der Forscher sagt: Die Statistik zeigt über die letzten 15 Jahre hinweg einen Rückgang an physischer Gewalt. Was darum erstaunt: Die Zahl von Übergriffen auf Polizisten, Ordnungsamtsmitarbeiter und andere Beschäftigte im Öffentlichen Dienst hat hingegen zugenommen.

 

Wie kann das sein?

 

Ulrich Wagner: Meist steht dahinter der Verlust einer – wissenschaftlich ausgedrückt – normativen Vorstellung darüber, wie man mit Gewalt umgeht. In einigen Gruppen kann man beobachten, dass Antigewaltnormen nicht mehr so geteilt werden, wie das gesellschaftlich eigentlich der Fall ist und das sieht man an der PKS.

 

Warum ist das so?

 

Ulrich Wagner: Es hat etwas damit zu tun, wie weit man sich selber als Mitglied unserer Gemeinschaft ansieht, des Staatswesens, und damit die Normen dieses Staatswesens insgesamt anerkennt, oder ob man den Eindruck hat: Das ist etwas anderes, das hat mir nicht so richtig zu tun und deswegen kann ich mich auch abweichend – in dem Fall gewalttätig – verhalten.

 

Hintergrund dafür ist, dass Sozialisation nicht richtig stattgefunden hat. Sozialisation besteht ja darin, dass Heranwachsende oder Menschen, die neu hinzukommen, lernen wie man sich in Deutschland verhält. Irgendwann übernehmen sie diese Haltung – zu der Gewaltfreiheit gehört.

 

Aber was führt dann dazu, dass sich Menschen nicht gewaltfrei verhalten?

 

Ulrich Wagner: Man kann annehmen, dass es einen Teil in unserer Gesellschaft gibt, der glaubt nichts davon zu haben, sich normkonform zu verhalten. Gegen allgemeine Regeln verstoßen Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben. Ich konstruiere mal ein extremes Beispiel: Ein Mensch mit Aufenthaltsgenehmigung dessen Aufenthaltsstatus hier ausläuft, bei dem klar ist, dass er abgeschoben wird. Warum sollte ein solcher Menschen sich normkonform verhalten? Natürlich bedeutet das nicht, dass sich alle Menschen, die in einer solchen Situation sind, nicht normkonform verhalten. Ich beziehe das nicht nur auf Menschen mit Migrationshintergrund. Wir haben auch andere Menschen in der Gesellschaft, die das Gefühl haben, nicht richtig mitmachen zu können. Und da läuft etwas falsch.

 

Wir reden hier über Gewaltübergriffe. Meinen Sie damit auch verbale Gewalt?

 

Ulrich Wagner: Nein. Meine Definition von Gewalt ist: die Verletzung der körperlichen Unversehrtheit und deren Androhung. Da wird jemand verfolgt bis zur Haustür – der wäre auch in meiner Gewaltdefinition drin. Aber wenn jemand dem Schaffner sagt „Du Arsch!“ dann ist das eine üble Beschimpfung, aber es ist keine Gewaltandrohung. Ich glaube das macht auch mit dem Schaffner etwas anderes, als wenn er bedroht oder körperlich angegriffen wird. Deshalb halte ich das für wichtig, das auseinander zu halten.

 

→ Mehr darüber, wer meist die Täter sind und wie sich nach Auffassung des Gewaltforschers die Zunahme von Übergriffen beispielsweise in den Kommunen ausbremsen ließe, erfahrt ihr in Teil 2 des Interviews.

 

Zur Person:
Ulrich Wagner gehört zu den Gewaltexperten in Deutschland. Er ist Sozialpsychologe und Seniorprofessor an der Philipps-Universität Marburg. Wagner forscht in Themenbereichen wie Intergruppenkonflikte, Aggression und Gewalt und ist als Präventionsexperte und Gutachter deutschlandweit tätig.

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