Seit 100 Tagen Kampagne gegen Gewalt – eine Zwischenbilanz
Knapp 300 gemeldete Angriffe auf Beschäftigte im Öffentlichen Dienst, schockierende Schilderungen von Übergriffen und bewegende Rückmeldungen von Angehörigen – seit 100 Tagen ist die Kampagnen-Website „www.angegriffen.info“ im Netz, um mobil zu machen gegen die Gewalt, die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst entgegenschlägt. Wie ernst die Lage ist, zeigen Kommentare wie dieser: „er hätte lieber vollkommen ausrasten sollen und die alte zu tode prügeln müssen.“ Er steht unter dem Video, mit dem die dbb jugend nrw vor wenigen Wochen ihre Kampagne startete.
Das Video, das eine reale Szene aus dem Alltag einer Beschäftigten im Öffentlichen Dienst nachstellt, sollte wach rütteln. Öffentlichkeit und Politik sollten gleichermaßen verstehen, dass die Berichte von Beschäftigten in Sozial- oder Arbeitsämtern, Ausländerbehörden oder selbst Finanzämtern keine Einzelfälle sind, sondern dass das Klima in deutschen Amtsstuben, in Bahnen und auf der Straße unfassbar rau geworden ist. In allen Bereichen des Öffentlichen Dienstes. An allen Tagen.
Wie eine Welle verbreitet sich das Schock-Video im Netz und wird innerhalb der ersten 36 Stunden bereits mehr als 2.000 Mal angeklickt. Damit ist der Auftakt zur bundesweiten Kampagne „Gefahrenzone Öffentlicher Dienst“ getan, die die dbb jugend nrw vor exakt 100 Tagen startete. Viele schockierte die Brutalität, der sich Beschäftigte im Öffentlichen Dienst immer häufiger ausgesetzt sehen. Aber nicht alle.
Hasskommentare zeigen den Ernst der Lage
Manche nehmen das es zum Anlass, in der Anonymität des Netzes noch einen draufzusetzen. So geschehen unter dem Kampagnen-Video „Ausraster im Amt“, mit dem die dbb jugend nrw ihre Kampagne „Gefahrenzone Öffentlicher Dienst“ bei YouTube startete. Geradezu milde mutet noch dieser an: „Nachdem ich 5 mal die selben unterlagen bringen sollte und angeblich immer noch was fehlte, was nachweislich 1. Eingereicht wurde und 2. Nicht nochmal erfragt wurde bis dahin, hätte ich das gerne auch gemacht! Jeder der sich nicht so zusammen reißen kann, würde da genau so ausrasten! Und zwar zu recht!“
Ein weiterer Kommentar, der gerade mal eine gute Woche alt ist, zeigt hingegen, warum viele Beschäftigten im Öffentlichen Dienst nur mit Bauchschmerzen an ihren Arbeitsplatz kommen: „Ich könnt euch sachen aus dem Jobcenter erzählen die mir persönlich, nachweislich zugestoßen sind. Ich habe eine sehr gute erziehung genossen und bin eigentlich gut bürgerlich aufgewachsen ABER was dort abgeht … rechtfertigt sogar körperliche gewalt gegen jeden einzelnen mitarbeiter !!!… Wie gesagt schade, das der typ der alten nicht ein paar mal vorn kopf getreten hat. Sie hätte es verdient. … schade das er sich noch halbwegs im griff hatte, er hätte lieber vollkommen ausrasten sollen und die alte zu tode prügeln müssen !!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!!“
Ähnliche Gewaltaufrufe sind immer wieder auch unter Beiträgen über Angriffe auf Beschäftigte zu lesen, von denen die Medien berichten. Sie dokumentieren öffentlich, wie hoch die Gewaltbereitschaft mancher Bürger ist. Sie zeigen, welches Kopfkino sich bei manchen Menschen abspielt und bei anderen in Wutausbrüchen, Beleidigungen, Drohungen und Angriffen auf Beschäftigte im Öffentlichen Dienst entlädt.
Als vor 100 Tagen die Kampagnenseite „angegriffen.info“ online ging, stand dahinter vor allem die Idee, die Situation öffentlich zu machen, Übergriffszahlen zu sammeln und eine Möglichkeit zu bieten, sich im Öffentlichen Dienst bundesweit gegen Gewalt zu vernetzen. Tatsächlich ist aber noch viel mehr geschehen.
So überwältigend ist die Resonanz
Gleich am ersten Tag wurde die Seite über 7.600 Mal aufgerufen. Die Reaktionen sind überwältigend. Viele Anrufe und E-Mails zeigen, dass es überfällig war: „Hallo, ich finde es klasse, dass endlich mal darauf aufmerksam gemacht wird, was alles mit Mitarbeiterin im Öffentlichen Dienst passiert“, schreibt jemand. Ein anderer Unterstützer mailt: „Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte nur Kontakt aufnehmen und soweit möglich unterstützen“. Die Meldung über den Start der Kampagne wird durch zahlreiche Fachgewerkschaften auf Jugend- und Erwachsenenebene in ganz Nordrhein-Westfalen und auch darüber hinaus weiterverbreitet und unterstützt. Auch Parteivertreter tun dies. In Remscheid greift der CDU-Ortsverband die Ergebnisse einer Umfrage auf der Kampagnen-Website auf und fordert den Oberbürgermeister auf, in einer Ratssitzung das Thema zu behandeln und schriftlich Stellung zu nehmen. Informationsmaterial und Flyer sind rasend schnell vergriffen und müssen in zehntausendfacher Stückzahl nachgedruckt werden.
Insgesamt 286 Vorfälle, in denen Menschen aus nichtigem Anlass ausrasten und meist bis zum Äußersten gehen, sind auf einer Zeitleiste auf „angegriffen.info“ dargestellt. Sie führt chronologisch geordnet Übergriffe auf Beschäftigte aller Bereiche des Öffentlichen Dienstes in Deutschland auf, die größtenteils auch durch die Medien gingen. Ausschließlich von Betroffenen selbst kommen hingegen alle Einträge in der Rubrik „Kummerkasten“. Beschäftigte aus Finanzämtern, Jobcentern, dem Rettungsdienst, aber auch Bahnbeschäftigte oder Politessen tragen dort ihre eignen Erlebnisse ein. „Allerdings anonymisiert, denn die Betroffenen fürchten nicht nur weitere Angriffe, sondern auch Probleme durch ihre Arbeitgeber, die die Geschehnisse unter dem Deckel halten wollen“, sagt Jano Hillnhütter, der Vorsitzende der dbb jugend nrw.
Das hat die Kampagne in 100 Tagen öffentlich gemacht
So schreibt ein Betroffener unter dem Nickname „mika“: „Ein Kunde schlug mir einen ganzen Stapel meiner Akten gegen den Kopf, weil ich seine Leistungen nach dem SGB II nicht auszahlen durfte. Anschließend schlug er mit der Faust nach mir – ich lag bereits am Boden. Ich musste leider privatrechtlich gegen den Kunden vorgehen. Es gab eine Verhandlung, doch die Sache wurde eingestellt. Einige Jahre später erkrankte ich vermutlich aufgrund des Vorfalles erneut und bin knapp ein Jahr ausgefallen. Hilfe? Fehlanzeige!“
100 Tage nach dem Start der Kampagne „Gefahrenzone Öffentlichen Dienst“ ist vieles passiert. Über einen eigenen Twitter-Account wird jeder neue Übergriff aus der Zeitleiste öffentlich gemacht und weitere aktuelle Infos zum Thema verbreitet. Zwei Umfragen, an denen sich insgesamt beinahe 1.000 Beschäftigte aus dem Öffentlichen Dienst im gesamten Bundesgebiet beteiligt haben, zeigt den Ernst der Lage. „Beinahe die Hälfte der Beschäftigten hat bereits selbst Übergriffe erlebt. Und in der zweiten Umfrage berichtet die Hälfte der Teilnehmer darüber, dass sich in Notsituationen zwar die Kollegen untereinander helfen, es aber keine festen Notfallabläufe gibt“, fasst Jano Hillnhütter die Ergebnisse zusammen.
„Es besteht also offenkundig dringender Handlungsbedarf“, so Hillnhütter weiter. In manchen Kommunen habe man zwar beispielsweise Grundsatzerklärungen gegen Gewalt verabschiedet und diese auch über die Medien bekannt gegeben. Doch die Mitarbeiter vor Ort wissen zu berichten, dass diese nur auf dem Papier existieren und keine Relevanz für die tägliche Arbeit hätten. Auch Selbstverteidigungstrainings für die Mitarbeiter brachten einer Kommune zwar einen guten Ruf ein, werden tatsächlich jedoch von den Beschäftigten selbst in Sportvereinen organisiert und angeboten.
Seelische Folgen und Morddrohungen
100 Tage nach dem Start der Kampagne steht auch aus solchen Gründen das Telefon bei der dbb jugend nrw nicht mehr still. Betroffene melden sich und erzählen von Angriffen auf sich selbst und auch von Kollegen, die nach schweren Angriffen körperlich verletzt wurden und in Folge dessen seelisch am Ende sind. Die Mitarbeiterin einer Uniklinik berichtet unter anderem von Morddrohungen, die sie erhalten hat. „Jemand wollte über einen Patienten auf der Intensivstation telefonisch Auskünfte haben. Als ich ihm mitteilte, dass ich ihm dazu telefonisch nichts sagen könne, drohte er mir: ‚Passen Sie nachts auf, wenn Sie nach Hause gehen. Ich weiß, wo Sie wohnen!‘“
„Da es bislang nur wenig konkrete Zahlen zu den Übergriffen im Öffentlichen Dienst gibt, versuchen wir unter anderem über die Kampagne Informationen und Fakten zusammenzutragen“, sagt Hillnhütter. In Kürze will die dbb jugend nrw diese bei einem persönlichen Treffen im Bundesinnenministerium gemeinsam mit der dbb jugend (Bund) vorstellen und diskutieren.