Wenn aus dem Bürger der Kunde wird
19.07.2018 | Bestandsaufnahme

Wenn aus dem Bürger der Kunde wird

Statt Bürgernähe heißt das Ziel in der öffentlichen Verwaltung häufig: Kundenorientierung. Der Bürger wird zum Kunden – und der ist bekanntlich König. Was gut gemeint ist, hat teilweise fatale Folgen.

 

Kundenorientiert, zügig und transparent – wer heute der Stadtverwaltung einen Besuch abstattet oder beim Finanzamt anruft, erwartet vor allem eins: guten Service. Den zu leisten, sind die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst bemüht. Tag für Tag. Doch honoriert wird das nicht immer. Eine der Ursachen: Ein falsches Verständnis von dem, was Verwaltung leisten kann und was sie nicht leisten kann – was sie ist und was sie eben nicht ist.

 

Warum die Verwaltung nicht Amazon ist

 

„Es gibt Maßnahmen, die sind hoheitlich und keine Dienstleistung“, sagt Moritz Pelzer, Vorsitzender der dbb jugend nrw. Wer zur Zulassungsstelle geht und sein Wunschkennzeichen abholen möchte, der nimmt in gewisser Weise eine Art Dienstleistung entgegen. „Doch die hört spätestens da auf, wo es um Steuerschulden oder einen abgelaufenen TÜV geht“, sagt Pelzer. Das zeigt: Es gibt Dinge, die sind trotz „Kundenorientierung“ nicht verhandelbar. Wo aus dem „Bürger“ ein „Kunde“ gemacht wird, wird ihm ein Versprechen suggeriert, das im Zweifelsfall später nicht eingelöst werden kann.

 

Aus der Praxis weiß auch Marcel Philipp, Oberbürgermeister der Stadt Aachen: „Mitarbeiter sehen sich im Spannungsfeld zwischen Kundenzufriedenheit und Erfüllung des staatlichen Auftrags.“ In Aachen hat man sich intensiv des Problems der zunehmenden Übergriffe angenommen, die durch dieses Missverständnis befeuert werden. Denn Wartenummern, Bearbeitungszeiten und Ablehnungsbescheide passen so gar nicht in das Bild, das mancher mit seinem Anliegen in die Verwaltung trägt. Abläufe, die nach außen nicht nachvollziehbar sind, ungemütliche Wartezonen und das Gefühl, es gehe nicht voran, lassen in manchem den Unmut hochkochen. Gepaart mit der Vorstellung vom Kunden und vom König kann das zu einer explosiven Mischung werden, die sich an den Beschäftigten entlädt.

 

Umtauschrechte gibt’s hier nicht

 

Widerruf und Rückgabe gehören zu den normalen Rechten eines Kunden. Dem Staat aber kann man nicht zurückgeben, was einem nicht gefällt. Der Staat hat das Wohl aller im Blick. „Natürlich haben Bürger auch in der Verwaltung Rechte“, sagt Moritz Pelzer. Wer mit einer Leistung oder einem Bescheid nicht einverstanden ist, der kann Widerspruch einlegen. Das wird dann geprüft. „Doch wenn der Bescheid korrekt ist, bleibt er in letzter Instanz auch dann bestehen, wenn der Bürger meint, er sei falsch“, sagt Pelzer. Doch wie konnte es zu der nicht immer passenden Vorstellung von Verwaltung als Dienstleistungsbetrieb kommen?

 

Wie der Kundenbegriff in die Verwaltung kam

 

Die Antwort reicht zurück bis in die Zeit der Neuausrichtung von Kommunalverwaltungen als Dienstleistungsunternehmen. Die öffentliche Verwaltung bekam eine neue Adressatenbestimmung. Der Bürger als Bittsteller beim Amt – dieses Bild war nicht mehr zeitgemäß und hatte ausgedient. Ursächlich dafür: Das Thema „Verwaltungsmodernisierung“ bekam in den 1990er Jahren Schwung. Externe Beratungsfirmen untersuchten die Aufgaben und die Struktur von öffentlicher Verwaltung, um danach ein Konzept zu entwerfen, nach dem die Verwaltung angepasst und zukunftsfähig in ein neues Jahrtausend starten sollte.

 

Orientiert am freien Markt führte man Controllingprozesse ein, um die Ergebnissteuerung besser überwachen zu können. Die Erreichbarkeit von Verwaltung wurde zum Thema. Vor allem in den Kommunalverwaltungen wurden lange Tage eingeführt, an denen Bürgerbüros und andere Abteilungen bis zum Abend erreichbar sind.

 

Hoheitlich – aber trotzdem flexibel, schnell und verlässlich

 

Nicht nur die Wege des Bürgers zum Amt sollten verkürzt werden, sondern auch die Wege, die Anliegen in Form von Anträgen durch die Verwaltung nehmen müssen. Alle Augen richteten sich plötzlich auf Kernbegriffe wie „Flexibilität, Schnelligkeit, Verlässlichkeit“, die Kern der neuen Dienstleistungseigenschaften sein sollten. Neben den etablierten Formen der demokratischen Mitbestimmung wie Wahlen oder Bürgerentscheide war für staatliches Handeln eine neue Legitimationsquelle eröffnet: die Kundenmacht.

 

Das Anpassen verwaltungsinterner Arbeitsstrukturen und das Beseitigen organisierter Unverantwortlichkeit sollten die Beziehung zum Bürger verbessern. Verantwortlichkeiten sollten für den Bürger identifizierbar werden, um im Falle von Beschwerden den Schuldigen schnell ausfindig machen zu können.

 

Anträge sind keine Produkte

 

Das Problem: Anträge sind keine Produkte, die man aus dem Regal nimmt. Die Bewilligung von Anträgen bzw. deren Ablehnung entsprechen nicht dem Bild eines Konsumkunden. Der Staat sollte auf Augenhöhe rücken. Da ist er nun – und doch gehört er da nicht so recht hin. Das bemerkte auch jüngst NRW-Innenminister Herbert Reul. Eine Polizei auf Augenhöhe entspricht nicht der Vorstellung einer ausführenden Staatsgewalt, die – mit einem Schutzauftrag versehen – die Bürger vor Gefahren wie Terror und Gewalt behüten und für Recht und Ordnung sorgen soll. In Konsequenz dessen forderte Reul ein neues Leitbild, das eine durchsetzungskräftigere Polizei beinhaltete.

 

Für den Bereich der klassischen Verwaltung hält der Vorsitzende der dbb jugend nrw Bürgernähe und Begegnung auf Augenhöhe für wichtig. „Es ist gut, dass es Einrichtungen und Optionen gibt, die Dinge für die Bürger vereinfachen“, sagt er. Dazu zählen beispielsweise die zentrale Servicenummer 115, unter der Bürger schnell zu den richtigen Ansprechpartnern kommen oder die Möglichkeit, online Termine zu machen. Bei allem Servicedenken jedoch bleibt laut Pelzer die Rolle der öffentlichen Verwaltung klar definiert: „In erster Linie erfüllen wir hoheitliche Aufgaben.“

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