„Eigentlich sollte die Zahl der Übergriffe null betragen“
Fünf Jahre in der Führerscheinstelle, ein Jahr in der Zulassungsstelle – da hat man viel mit Pöbeleien und auch hin und wieder mit Handgreiflichkeiten zu tun. Für Saskia Weitz sind das Eindrücke, die sie letztlich zum Thema ihrer Bachelorarbeit macht. Mit eindrücklichem Ergebnis.
Sie liest, sie forscht und schreibt schließlich – über das, was vielen Kollegen täglich bei der Arbeit widerfährt: Gewalt. Übergriffe – mal im Wortgewand als Beschimpfung und Pöbelei, mal als körperliche Gewalt oder schließlich als psychische Last. Über die Situation, all das nicht wegschieben zu können, mit nach Hause zu nehmen, Frust zu haben, Angst zu entwickeln oder noch viel mehr.
Mehr als 77 Prozent der Beschäftigten wurden angegriffen
Das Ergebnis ihrer Untersuchung im Rhein-Erft-Kreis, der als Modellkommune die Grundlage für ihre Datenerhebung stellte: Fast 70 Prozent der befragten Mitarbeiter gaben an, dass die Gewaltbereitschaft gegen Beschäftigte im Öffentlichen Dienst in den vergangenen fünf Jahren zugenommen habe. Mehr als 77 Prozent wurden selbst körperlich oder verbal angegriffen. 14 Prozent trugen gar psychische Folgen davon.
„Diese Zahlen sollten eigentlich null betragen“, resümiert die junge Beamtin betroffen. „Ich finde es heftig, dass Beschäftigte wöchentlich bei ihrer Arbeit beleidigt werden und das nur, weil sie ihren Job machen“, sagt sie.
Beleidigungen sind am häufigsten unter den Übergriffen
Am häufigsten sind es Beleidigungen, die die Mitarbeiter über sich ergehen lassen müssen (69 Prozent). Mehr als die Hälfte der Befragten gaben zudem Distanzverletzungen und Bedrohungen an. Beinahe 14 Prozent der befragten Mitarbeiter des Rhein-Erft-Kreises gaben sogar an, körperlich angegangen worden zu sein.
An der Befragung hatten in Summe 66 Beschäftigte aus dem Straßenverkehrsamt, Ordnungsamt und dem Ausländeramt teilgenommen. „Auch, wenn man zugrunde legt, dass es in diesen Ämtern unter anderem aufgrund des regen Publikumsverkehrs gefühlt sicherlich häufiger als in anderen Bereichen zu Übergriffen kommt, erschrecken solche Ergebnisse immer wieder aufs Neue“, sagt Moritz Pelzer, Vorsitzender der Deutschen Beamtenbund-Jugend NRW (dbb jugend nrw). Aus diesem Grund sei man mit der bereits seit mehreren Jahren laufenden Kampagne „Gefahrenzone Öffentlicher Dienst“ auch noch lange nicht bei einem Schussstrich angelangt, sagt er.
Ergebnis aus Rhein-Erft-Kreis ist übertragbar
Auch wenn die Ergebnisse aus der Bachelorarbeit im Rhein-Erft-Kreis nur exemplarisch einen Ausschnitt wiedergeben, weiß er aus der gewerkschaftlichen Arbeit und zahlreichen anderen wissenschaftlichen Erhebungen, dass dieses Bild vergleichbar ist mit vielen anderen Tätigkeitsbereichen im Öffentlichen Dienst.
„Es zeigt: Übergriffe passieren fast jedem“, sagt Saskia Weitz. Schlucken musste die junge Frau, die gerade ihren Aufstieg gemacht hat, auch als sie über die Folgen von Gewalt am Arbeitsplatz schrieb: Bedrückend sei nicht nur die Tatsache, dass Kollegen überall im Öffentlichen Dienst körperliche Wunden und blaue Flecken davontragen, sondern auch das, was auf den ersten Blick verborgen bleibe: die Wunden in der Seele.
Aus Angst auf innere Abwehr eingestellt
In ihrer Bachelorarbeit schrieb die 30-Jährige darum auch über die Kollegen, die aus Angst nicht mehr gerne zur Arbeit gehen. Auch über die, die Angst vor Kunden entwickeln und ihren Job nicht mehr gerne machen. Eine ihrer Feststellungen: „Daraus resultiert manchmal ein Teufelskreis.“ Mitarbeiter würden in manchen Fällen durch solche Erfahrungen stumpfer, um sich selbst zu schützen. Die Wirkung nach außen: Sie werden unfreundlicher, gehen möglicherweise auf innere Abwehr. „Damit provoziert man in der Umkehr natürlich, dass Kunden einen Anlass finden, respektlos zu werden“, resümiert sie. Schon sei man am Punkt neuer Übergriffe angelangt.
Viele der Mitarbeiter wünschten sich darum zum Zeitpunkt der Umfrage Unterstützung durch den Einsatz von Security-Kräften, andere eine bessere Schutzausrüstung. „Ich war selbst in meiner Ausbildung für einige Zeit im Ausländeramt und weiß, was man dort erleben kann“, sagt Saskia. Auch von Kollegen weiß sie, dass sich beispielsweise Geflüchtete in ihrer Verzweiflung vor einer Abschiebung selbst schwere Verletzungen zufügen und wie gefährlich die Begleitung solch in Panik geratener Menschen sein kann.
Besonders Bereiche mit viel Publikum brauchen Schulung
Aus diesem Grund gibt es vielerorts Deeskalationsschulungen. „Wenn man jedoch darüber nachdenkt, dass man zum Beispiel in der Führerscheinstelle mit 30 verschiedenen Menschen täglich zu tun hat, fände ich es wichtig, solche Schulungen wirklich häufiger anzubieten und nicht nur sporadisch in eher größeren Zeiträumen“, so Saskias persönliche Meinung.
„Als gewerkschaftlicher Dachverband plädieren wir darum dafür, Deeskalationsschulungen als Trainings zu sehen. Und Training heißt: regelmäßiges Einüben von Reaktionsmustern – wie es darum auch im sportlichen Training gemacht wird“, sagt Pelzer. In manchen Kommunen und Ämtern werde es einfach immer noch zu selten angeboten.
Die Ergebnisse der Bachelorarbeit belegen seiner Meinung nach zwar erneut eindrücklich die traurige Gesamtsituation, doch hat Pelzer auch Grund zur Freude: „Es ist toll, dass sich junge Menschen auch im Rahmen wissenschaftlicher Arbeit mit diesem wichtigen Thema auseinandersetzen“, sagt er. Und das zudem – mit Blick auf eine tolle Endnote – mit hervorragendem Endergebnis.