Viele Gefährdungsbeurteilungen sind nicht vollständig
30.03.2021 | Bestandsaufnahme

Viele Gefährdungsbeurteilungen sind nicht vollständig

Viele Arbeitgeber im Öffentlichen Dienst interessieren sich zu wenig für die psychische Belastung ihrer Beschäftigten, so lässt sich aus einer Umfrage der dbb jugend nrw schließen. Rund 65 Prozent der Befragten geben darin an, dass für ihren Arbeitsplatz keine Beurteilung der psychischen Belastung erstellt wurde. Dabei ist diese gesetzlich vorgeschrieben.

 

Nicht nur körperliche Angriffe wie ein Fausthieb führen zu schweren Verletzungen. Auch seelischer Stress und psychische Last können am Arbeitsplatz so schwerwiegend sein, dass sie schwer krank oder sogar berufs- oder dienstunfähig machen.

 

Das regelt das Arbeitsschutzgesetz

 

Um Beschäftigte davor zu schützen, sieht der Gesetzgeber im Arbeitsschutzgesetz vor, dass für jeden Arbeitsplatz eine so genannte Gefährdungsbeurteilung durch den Arbeitgeber erstellt werden muss. Mit dieser wird ermittelt, welche Risiken und Gefahren vom Arbeitsplatz oder von den Arbeitsverfahren für die Beschäftigten hinsichtlich ihrer körperlichen und psychischen Gesundheit drohen können. Existieren Gefährdungsbeurteilungen, so nehmen sie jedoch meist lediglich solche Gefahren in den Blick, die beispielsweise von gefährlichen Arbeitsplätzen oder Maschinen ausgehen. Eine mögliche Folge: Der Gebrauch von Schutzhelmen, Schutzkleidung oder Schutzbrillen wird vorgeschrieben. Doch solche Maßnahmen schützen nur den Körper, nicht aber die Seele.

 

Die Ergebnisse der Umfrage zur Erfassung der psychischen Belastung

 

An mehr als jedem zweiten Arbeitsplatz bleibt der Blick auf die Risiken für die Psyche jedoch aus, wie eine Umfrage der dbb jugend nrw bei mehr als 337 Beschäftigten im öffentlichen Dienst ergab. 65 Prozent der Befragten gaben darin an, dass es für ihren Arbeitsplatz keine Beurteilung bezüglich der psychischen Belastungen gäbe. Nur 20 Prozent bestätigten, dass die gesetzlich vorgeschriebene Ermittlung der psychischen Risiken für ihren Arbeitsplatz vorliegt.

 

„Diese Zahlen decken sich mit meinen Erfahrungen“, sagt Mathias Knust, stellvertretender Landesvorsitzender der Gewerkschaft Technik und Naturwissenschaft (BTB NRW). Er ist selbst bei der Bezirksregierung Arnsberg als Gewerbeaufsichtsbeamter beschäftigt und kümmert sich dort täglich um die Einhaltung von Arbeitsschutzvorschriften. Daher weiß er, dass es Bereiche gibt, in denen diese Risiken klar erfasst sind und Beschäftigte speziell durch entsprechende Angebote und Schulungen unterstützt werden. In der Kranken- und Altenpflege oder dem Rettungswesen sei das so, weil hier der dauernde Umgang mit traumatischen Ereignissen, Krankheit und Tod offensichtlich sei.

 

Corona spitzt die psychische Last in vielen Bereichen zu

 

Anders sieht das aber in den meisten anderen Bereichen des Öffentlichen Dienstes aus. „In den Gesundheitsämtern drückt die nicht mehr zu bewältigende Flut an Aufgaben auf die Psyche“, sagt Moritz Pelzer, Vorsitzender der dbb jugend nrw. Er kennt viele ähnliche Beispiele, die sich jetzt zu Pandemie-Zeiten besonders zuspitzen, aber bereits zuvor existierten. Beratungsstellen nennt er, Jugendämter oder den Allgemeinen Sozialen Dienst, in denen Beschäftigte Familien Hilfe anbieten, weil dort Kinder Opfer von Gewalt werden. Auch bei der Arbeit der Ordnungsämter oder der Polizei geht es immer wieder um den Umgang mit Beleidigungen und massiven Drohungen.

 

Diese können ebenso belastend sein wie eine zu hohe Arbeitslast, zu wenig Erholungsphasen oder nicht funktionierende oder fehlende technische Ausstattung, die zu hoher Frustration führt, sagt Knust. Auch Über- oder Unterforderung können die Psyche Schaden nehmen lassen, sagt er weiter.

 

„Was Arbeitgeber da machen, ist skandalös“

 

„Dass die psychische Gefährdungsbeurteilung in vielen Bereichen trotz der gesetzlichen Vorgabe immer noch eine so geringe Rolle spielt, ist skandalös“, sagt Pelzer. In Zeiten wie während der Corona-Pandemie könne man wie durch ein Brennglas sehen, wo es schon zuvor gebrannt habe. Hier sei die Politik gefragt: „Sollte ein Dienstherr es nicht für nötig halten, diese Pflichten umzusetzen, muss es spürbare Konsequenzen seitens der Aufsichtsbehörde und der Politik geben“, sagt der Chef der dbb jugend nrw. Dazu sei es notwendig, beispielsweise die Personalausstattung in den Bezirksregierungen als zuständiger Aufsichtsbehörde in NRW so anzupassen, dass eine regelmäßige Überprüfung überhaupt möglich sei.

 

„Derzeit kann aufgrund der personellen Auslastung jeder Arbeitgeber statistisch nur alle 30 Jahre einmal überprüft werden“, sagt Knust. Zu wenig Personal und zu große Aufsichtsgebiete sind die Gründe hierfür.

 

Das kann man selbst tun, damit sich die Lage bessert

 

Darum raten sowohl Pelzer als auch Knust, über die Personalvertretungen selbst Druck zu erzeugen und darauf zu pochen, dass psychische Gefährdungsbeurteilungen ebenso ernst genommen werden wie solche, die die Gestaltung des Arbeitsplatzes, Schutzausrüstung und Qualifikation der Beschäftigten erfasst. „Zudem haben unsere Mitglieder natürlich die Möglichkeit, über die Gewerkschaft ihr Recht auf eine vollständige Gefährdungsbeurteilung einzufordern“, sagt Pelzer.

 

Darüber hinaus könne sich laut Knust jedoch auch jeder Beschäftigte selbst an die Bezirksregierung wenden und dort eine Beschwerde einreichen. „Jede Beschwerde und jeder Hinweis wird von uns geprüft und bearbeitet“, sagt Knust. Geht daraus hervor, dass die psychischen Belastungen in der Beurteilung nicht berücksichtigt wurden, wird dies mit einer Fristsetzung angemahnt und die Umsetzung zeitnah nach drei Monaten kontrolliert. Sei dies dann immer noch nicht erfolgt, wird ein Bußgeld verhängt.

 

„Fürsorgepflicht darf dem Brandschutz nicht nachstehen“

 

„Die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers und Dienstherren muss einen ähnlich hohen Stellenwert haben wie der Brandschutz“, sagt Pelzer. Es müsse Konsequenzen haben, wenn Arbeitgeber sich dafür nicht interessieren oder nachlässig seien, fordert er ein und hält fest: „Auch wenn Antworten auf solche Fragen vielleicht unerwünscht sind, sind sie zugleich eine Chance dafür, gesunde und motivierte Beschäftigte zu haben und zugleich rechtzeitig auf Problemfelder aufmerksam zu werden.“

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