Wie Anfeindungen das Risiko psychischer Erkrankung erhöhen
24.08.2020 | Betroffenenberichte

Wie Anfeindungen das Risiko psychischer Erkrankung erhöhen

„Ihr mit euren Vorschriften! Ich zeig dir gleich wie sich das anfühlt, du Schlampe!“ – Verbalattacken im Job wie diese versetzen das Hirn in Stressalarm. Auch an ausgeglichenen und stressresistenten Menschen geht das auf Dauer nicht spurlos vorbei. Welche Folgen hat das und woran erkennt man, dass das Maß voll ist?

 

Gewalt trifft nicht nur Uniformierte, sondern auch zahlreiche Beschäftigte in anderen Bereichen mit Publikumskontakt, wie zum Beispiel im Bürgeramt oder auch Gerichtsvollzieher. Nicht nur körperliche Gewalt hinterlässt Spuren bei den Beschäftigten. Auch verbale Entgleisungen des Gegenübers bleiben haften. Über einen längeren Zeitraum hinweg addieren sie sich, bis irgendwann die psychische Last einfach zu groß wird. Viele Betroffene überkommt in dieser Situation ein Gefühl von Ohnmacht und Kontrollverlust sowie der Eindruck, selbst nicht mehr Herr der Lage zu sein.

 

Dem Druck nicht mehr gewachsen

 

Der Psychologe und Chefarzt der Heiligenfeld Klinik Berlin, Sven Steffes-Holländer, erlebt die Folgen dessen bei seiner täglichen Arbeit: Er behandelt und begleitet Menschen aus dem Öffentlichen Dienst, die diesem Druck irgendwann nicht mehr gewachsen sind und in Folge dessen mit unerklärlichen körperlichen Beschwerden, Ängsten und Depressionen in seiner Klinik Hilfe suchen.

 

„Wenn man ständig Anfeindungen und Angriffen ausgesetzt ist, hilft es irgendwann auch nicht mehr, sich klar zu machen, dass man nicht persönlich gemeint ist, sondern als Repräsentant seines Berufs“, sagt der Psychologe. Man reagiert emotional, gerät unter Stress. „Dieser sorgt für einen Daueralarm im Hirn und begünstigt das Auftreten von psychischen Erkrankungen“, so der Experte.

 

Psychisch krank durch psychische Last – kein Einzelfall

 

Selten ist das nicht. 65 Prozent der Beschäftigten der Berliner Ordnungsämter gaben beispielsweise in einer repräsentativen Umfrage aus dem Jahr 2016 an, psychische Gewalt am Arbeitsplatz erlebt zu haben. „Bei jedem Arbeitnehmer gibt es ein hohes Potenzial, im Arbeitsleben mit Übergriffen konfrontiert zu werden“, sagt Steffes-Holländer. Über 10.000 Beschäftigte erlitten 2016 einen meldepflichtigen Arbeitsunfall durch die Einwirkung von physischer oder psychischer Gewalt zeigen Zahlen der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung. Man spreche also keineswegs von einem Randphänomen betont der Experte anlässlich der Sicherheitskonferenz der dbb jugend nrw, die im Juni 2020 als Online-Konferenz stattfand.

 

Geschehen solche Übergriffe, stelle sich für den einzelnen immer die Frage: Wie gehe ich damit um? Finde ich Gehör bei meinen Vorgesetzten? Nicht immer ist das der Fall, wie Mitglieder der dbb jugend nrw bei der Sicherheitskonferenz berichteten. Eine mögliche Folge dessen: Das Problem werde unter den Tisch gekehrt und bleibe dort oft viel zu lange.

 

Wie schädlich fehlender Rückhalt durch Vorgesetzte ist

 

Mangelnde Unterstützung jedoch verstärke den Stress. Die Betroffenen gefrieren in der Situation, werden in möglicher Folge handlungsunfähig und können nicht mehr so reagieren wie sie es normalerweise täten. Nach Erfahrung des Experten seien Führungskräfte meist offener, wenn sie bereits selbst Übergriffe erfahren haben.

 

Was für viele die Problematik verschärft, sind Selbstzweifel, die sich bei den Betroffenen einstellen können. Oft schwirren Gedanken wie: „Andere schaffen den Job doch auch und kommen mit den Bedingungen anscheinend problemlos zurecht“ durch die Köpfe. Darum empfindet mancher seine Situation als persönliche Schwäche oder eigenes Versagen. Auch aus Scham oder aus dem Gefühl heraus, Kollegen nicht belasten zu wollen, werde häufig über Gewalterlebnisse nicht gesprochen, sagt Steffes-Holländer. Manchmal haben Betroffene das Gefühl, das Erlebte würde außer ihnen niemanden interessieren oder nur „Insider“ könnten es verstehen. Aus Selbstschutz oder der Überzeugung, Privates von Dienstlichem trennen zu müssen, schweigt mancher.

 

Depression ist eine Volkskrankheit

 

„Es wird als Ausnahme betrachtet, dass beispielsweise jemand an einer Depression erkrankt. Dabei ist es die Regel. Depressionen sind eine Art Volkserkrankung“, sagt der Psychologe. Unter 18 Menschen erkranken statistisch neun im Laufe ihres Lebens einmal daran.
Auch Menschen also, die sich eigentlich als stressresistent und in dieser Hinsicht nicht empfänglich einschätzen. Sätze wie: „Dafür bin ich eigentlich nicht der Typ“, sind dem Therapeuten nicht unbekannt. „Das ist Quatsch. Es kann jeden treffen.“ Denn es gebe weder eine Impfung gegen Depression noch einen generellen Schutz davor, eine Panikstörung zu bekommen. Es gebe keine Behörde, in der es keine solchen Fälle gebe.

 

Wenn psychische Erkrankungen auftreten, sind sie jedoch mit erheblichen Einschränkungen verbunden. „Hat jemand einen verstauchten Fuß, beschränkt sich die Einschränkung darauf, schlecht laufen zu können“, so der Experte. Psychische Erkrankungen betreffen jedoch jeden Moment im Alltag und jeden Kontakt. Darum sei der Grad an Behinderung im Alltag viel größer als bei vielen körperlichen Leiden.

 

Hinweise auf eine Depression nicht übersehen

 

Woran aber merkt man, dass jemand von einer Depression betroffen ist? Nur selten sei es so, dass sich die Betroffenen selbst darüber bewusst sind. Es seien schleichende Prozesse, die dazu führen. Erkennungszeichen sind:

  • Reitbarkeit und Dünnhäutigkeit
  • Betroffene zeigen sich verstärkt unsicher und ohne Selbstvertrauen
  • Sie ziehen sich zurück
  • Sie leiden unter Ängsten
  • Sie sind erschöpft und kraftlos, niedergeschlagen und traurig
  • Einige reagieren unangemessen überschwänglich und euphorisch oder neigen zu waghalsigen Aktionen

 

Typische Anzeichen einer Erschöpfungsdepression sind zudem: Schlaflosigkeit, Kopfschmerzen, Verspannungen der Muskulatur, Konzentrationsschwäche, Rückenschmerzen, oder Appetitlosigkeit.

 

Besser Hilfe von außen holen

 

Nach Erfahrung des Berliner Therapeuten ist die psychologische Betreuung über den Arbeitgeber zwar ein gut gemeintes Zeichen, aber oft schwierig. Häufig falle es Menschen leichter, sich innerhalb eines externen Hilfsangebots zu öffnen. Nach einem akut belastenden Ereignis ist es dennoch sinnvoll, interne Hilfsforen zu nutzen, denn diese stehen unmittelbar zur Verfügung. Oftmals kann man dort auch Personen finden, die den Betroffenen zum Arzt begleiten können.

 

In der Realität zeigt sich, dass vielen nicht nur der Beginn einer Therapie schwer fällt. Auch die Rückkehr an den Arbeitsplatz nach der Therapie ist oftmals nicht einfach. Meist herrscht Verunsicherung auf beiden Seiten. Kollegen halten Betroffene möglicherweise für weniger belastbar und Betroffene haben ein ungutes Gefühl, weil ihnen meist klar ist, dass durch ihren Ausfall die Arbeitslast für die Kollegen angestiegen ist.

 

Wer den Betroffenen den Wiedereinstieg leichter gestalten möchte, dem rät Steffes-Holländer: Verhalten Sie sich ähnlich wie in Fällen, in dem jemand einen Todesfall in der Familie hatte. Sprechen Sie ihn an und fragen Sie, wie es ihm geht. „Wenn es nicht vorwurfsvoll oder bewertend geschieht, findet man so in ein lockeres Gespräch miteinander.“

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