22.04.2021 | Meilensteine

„Es musste etwas passieren – und es gab einen Donnerhall“

Blaue Flecken im Gesicht, blutende Nasen und Platzwunden – die Bilder, mit der die Kampagne „Gefahrenzone Öffentlicher Dienst“ im April 2016 an den Start geht, lassen Schlimmes vermuten. Sie sind zwar gestellt und die jungen Mitglieder aus NRW nur geschminkt, doch stehen sie von Beginn an symbolisch für zahlreiche Übergriffe auf Beschäftigte aller Bereiche des Öffentlichen Dienstes, die in der Realität ähnlich endeten – manchmal sogar tödlich.

 

Die ersten Berichte über pöbelnde Kunden, Tritte, Fausthiebe und Bedrohungen kamen von Beschäftigten der Justiz in Nordrhein-Westfalen. Das war im Herbst 2014 – bei einer Landesjugendausschuss-Tagung der dbb jugend nrw. Viel stummes Nicken unter den Mitgliedern. Keine Einzelfälle also. Aus diesem Grund startete dbb jugend nrw nach mühsamer Datensammlung vor fünf Jahren mit einer Kampagne, die wie ein Donnerhall durch das Land zog.

 

Übergriffe sind kein Problem bestimmter Berufe

 

„Gewalt und Öffentlicher Dienst – da denken viele gleich an Polizisten oder Rettungskräfte. Doch über all die Jahre konnten wir zeigen, dass das Phänomen alle Bereiche des Öffentlichen Dienstes betrifft – vom Sozialamtsmitarbeiter über Beschäftigte in Bürgerbüros, Politessen, Ordnungsamtsmitarbeiter bis hin zu Gerichtsvollziehern und Flughafenmitarbeitern“, sagt Moritz Pelzer, Landesjugendleiter der dbb jugend nrw. Die Kampagne bringt das Phänomen wie ein Lauffeuer in Umlauf. „Das zündete direkt – ohne Anlaufzeit“, erinnert sich der Landesjugendleiter. Als sie mit dem Politikaward ausgezeichnet wird und kurz darauf mit den European Excellence Awards for Public Affairs, steht alles noch am Anfang.

 

An diesen Anfang erinnert sich auch Susanne Aumann, Mitglied der Kreisjugendgruppe Aachen. Sie ist damals ganz frisch im Sozialamt und kann das, was sie da von den Kolleginnen und Kollegen hört, gut auf ihre eigene berufliche Situation übertragen. Noch sehr wach ist ihre eigene Erinnerung an ein Erlebnis mit einem Bürger: „Wenn du mir das Geld abziehst, werf ich dich aus dem Fenster!“ – Das war direkt nach Aumanns Ausbildung. „Ich dachte: Oh je, worauf hast du dich da eingelassen“, erinnert sich die junge Beamtin aus Aachen.

 

Eine wahre Begebenheit wird zum Kampagnenvideo

 

Die Stimmung ist in Anbetracht einer steigenden Zahl von Übergriffen angespannt. Gleich gehen ihr verschiedene Bilder durch den Kopf. Zum Beispiel eine Szene, von der eine Kollegin damals berichtet: Ein Bürger rastet aus. Er wütet aufgebracht durchs Büro, fegt den Monitor der Beschäftigten vom Schreibtisch, donnert Aktenordner auf den Boden, schreit herum. Genau diese Begebenheit stand Pate für ein nachgestelltes Schock-Video, das zum Auftakt der Kampagne „Gefahrenzone Öffentlicher Dienst“ im Netz kursiert und den Kampagnenstart im April 2016 ankündigt. – Weil das, was in der Realität passiert, ebenfalls schockiert und in die Öffentlichkeit muss.

 

Eindringlich sind die vielen Aktionen, mit denen die dbb jugend nrw zum Kampagnenstart nach außen geht. „Ich erinnere mich an unsere Mahnwache vor dem Alten Rathaus in Bonn“, erzählt Pelzer. Auf dem Platz waren Aufsteller verteilt, die Fotos mit verletzten Beschäftigten zeigten. „Wir haben von Anfang an inhaltlich starke Arbeit geleistet, aber auch öffentlichkeitswirksam gearbeitet“, sagt Pelzer, „denn uns war vollkommen klar, dass die Situation in vielen Behörden und Arbeitsbereichen des Öffentlichen Dienstes untragbar und sehr belastend sind.“ – Es musste etwas passieren. Dringend.

 

Was hat die Kampagne erreicht?

 

Fünf Jahre nach Kampagnenstart ist vieles in Bewegung gekommen und realisiert, um die Arbeit im Öffentlichen Dienst sicherer zu machen. Es sei genau der richtige Moment gewesen, um das Thema anzufassen und in der Öffentlichkeit, bei der Politik und in den Medien auf den Schirm zu bringen, resümiert Pelzer. Wie als Reaktion darauf auch in den Behörden ein Umdenken und ein Wandel einsetzt, beschreibt Susanne Aumann: „Es wurden Notfallknöpfe eingeführt.“ Über die Computertastatur können Beschäftigte in Notsituationen einen Alarm auf der ganzen Etage auslösen.

 

Notfallknöpfe geben mehr Sicherheit, aber sind nur ein Anfang

 

Solche Maßnahmen verbessern das subjektive Sicherheitsempfinden der Beschäftigten. Dennoch: Verhindern kann auch der Notfallknopf Übergriffe nicht wirklich – Übergriffe, die auch verbaler Natur sein können. „Die Aggression nahm weiter zu“, schildert Aumann. „Zum Teil schlugen sich Bürger beim Nummernziehen“, sagt sie. Die Stadt entschloss sich dazu, in einigen Verwaltungsgebäuden Sicherheitsdienste einzusetzen. Bis heute ist die Security nötig. Auch in vielen anderen Kommunen geht man inzwischen diesen Weg. Weil es nicht anders geht.

 

Doch in manchen Städten geht man weiter: Statt einzelner Insellösungen, welche die Sicherheit in verschiedene Behörden verbessern sollten, sucht man dort nach übergreifenden Sicherheitskonzepten. Ein Beleg dafür, dass die Sensibilität, die durch die Kampagne geschürt werden sollte, wirklich in der Politik und auch bei den Arbeitgebern angekommen ist. In Aachen trug man dazu bei: Dort veranstaltete die örtliche dbb-Kreisjugendgruppe auf Basis der Kampagne der dbb jugend nrw eine Aktion in der Innenstadt und machte das Problem öffentlich.

 

Warum ein Sicherheitskonzept niemals statisch sein darf

 

In der Aachener Stadtverwaltung lebt man heute eine Null-Toleranz-Strategie, die Teil eines umfassenden Sicherheitskonzepts zur Gewaltprävention ist. Gegen Übergriffige wird konsequent Anzeige erstattet, es werden Hausverbote erteilt und es wird deutlich kommuniziert, dass unangemessenes Verhalten nicht geduldet wird. Susanne Aumann erlebt das Sicherheitskonzept aus Aachen selbst als „Best Practice Beispiel“. Zugleich warnt sie aber davor, solche Konzepte zu statisch zu sehen und nicht mehr weiterzuentwickeln.

 

Es gebe – bereits vor der Pandemie, aber während ihr in besonderem Maße – eine Verlagerung von Übergriffigkeiten ins Internet. „Einsätze von Polizei und Ordnungsdiensten werden gefilmt und ins Internet gestellt, Shitstorms auf privaten Accounts von öffentlich Beschäftigten angezettelt“, sagt Aumann. Dieses Phänomen sei in dieser Form neu und müsse in den Sicherheitskonzepten ebenso Berücksichtigung finden, wie auch körperliche und verbale Übergriffe in Büros und auf Straßen.

 

„Nachdem Kommunen wie Aachen, aber auch Bonn solche Sicherheitskonzepte fahren, ist es zudem in der Zukunft notwendig, die Führungskräfte weiter zu schulen. Sie haben eine besondere Verantwortung für ihre Beschäftigten“, sagt Pelzer. Man dürfe sich nicht auf Erfolgen ausruhen. Zu diesen zählt er beispielsweise das Einrichten von Sonderstaatsanwaltschaften, die sich ausschließlich mit „Gewalt gegen Personen aus öffentlichen Bereichen“ befassen. Oder die Möglichkeit der Meldesperre beim Einwohnermeldeamt für öffentlich Bedienstete. Damit seien deutliche Verbesserungen erzielt worden. Auf einiges jedoch warten die Gewerkschafter immer noch vergeblich: „Dazu gehört die Erfassung aller Übergriffe auf Beschäftigte des Öffentlichen Dienstes in der Polizeilichen Kriminalstatistik“, verdeutlicht Pelzer eine der zentralen Forderungen der dbb jugend nrw.

 

Zugleich ist er sich jedoch sicher: „Wenn die Kampagne weiterhin von den Medien, der Politik und den Gewerkschaftern aufgegriffen und vorangetragen wird, werden wir noch viel erreichen.“ Aus dem anfänglichen Donnerhall wird dann ein langer Nachhall.

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